Wirtschaftskrise in Argentinien: Die Supersuppe ist zurück
Um in Argentinien die Armut zu lindern, wurde 2002 eine nahrhafte Suppe entwickelt. Nach Javier Mileis Machtübernahme läuft die Produktion wieder.

Es zischt und dampft in der großen Halle. Geraspelte Möhren werden in den riesigen Dampfkochtopf geschüttet. Durch Gesichtsmasken ertönen Anweisungen. „Noch ein bisschen, noch ein bisschen mehr! So ist es gut.“ Weiße Kittel, weiße Gummistiefel, Schutzhauben auf den Köpfen. Kein Haar soll in die Suppe fallen, wenn die Studierenden des Fachbereichs für Lebensmitteltechnologie in der argentinischen Kleinstadt Quilmes die Supersopa kochen.
Wasser, Rindfleisch, Kürbis, Möhren, Kartoffeln, Zwiebeln, Reis, Erbsen, Spinat, etwas Rinderfett, eine Prise Curry, Salz und ein wenig Geschmacksverstärker. Die Rezeptur der Supersopa ist einfach. Die Idee dahinter: eine Mahlzeit mit einem hohen Kalorien-, Nährstoff- und Proteingehalt für diejenigen, die es am meisten brauchen.
„In einer Armenküche, in der viele Menschen nur einmal am Tag etwas essen, macht eine Mahlzeit mit Fleisch einen großen Unterschied zu einem Teller, auf dem nur Nudeln liegen“, sagt Anahí Cuellas, Dozentin für Lebensmitteltechnologie. „Denn Nudeln und Reis enthalten wenig Protein. Und Proteinmangel führt bei Kindern zu einer schlechten kognitiven Entwicklung, Lernschwierigkeiten und Wachstumsproblemen.“
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Seit einem Jahr ist Cuellas Leiterin des Betriebes „Supersopa“ an der Universität in Quilmes, einer Kleinstadt 25 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Buenos Aires. Wüsste man nicht, dass man in den Einrichtungen einer Universität unterwegs ist, könnte man sich in den Fertigungsräumen eines mittelständischen Nahrungsmittelunternehmens wähnen. Im Nachbargebäude steht der große Heizkessel. Jeden Morgen wird er angeworfen und hochgeheizt, bis der Arbeitsdruck sechs Bar beträgt. Über isolierte Rohrleitungen wird der Dampf zu den Druckkesseln geleitet, in denen die Suppe gekocht und die Dosen sterilisiert werden.
Der Geschmack von Kindheit
Bislang wurden schätzungsweise 250.000 Dosen mit 10 Millionen Portionen Supersuppe hergestellt. Längst ist die Supersopa mit ihrem Löffellogo zu einer bekannten Marke geworden – und wird dennoch nicht in Supermärkten verkauft. „Das Erfolgsgeheimnis ist, dass es sich um ein ganz gewöhnliches Rezept handelt“, sagt Anahí Cuellas. Der Geschmackstest beweist es: Nur ein Löffel der Suppe und man fühlt sich wie im Flashback des Gourmetkritikers aus dem Film „Ratatouille“, der direkt an den Esstisch seiner Kindheit zurückkatapultiert wird.
Rückblende: Im Jahr 2001 erlebte Argentinien eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise mit verheerenden sozialen Folgen. Nahezu 60 Prozent der Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze. Nachbarschaftshilfen, Tauschmärkte und Volksküchen linderten die gröbsten Nöte der Menschen. Die Idee, unverkäufliche Ware eines zentralen Obst- und Gemüsegroßmarktes zur Herstellung von Gerichten für Bedürftige zu nutzen, fand große Zustimmung. Die Provinz Buenos Aires schaffte dafür das erforderliche Equipment an.
Das Vorhaben scheiterte jedoch an den gesetzlichen Hygiene- und Sicherheitsvorschriften des Landes. Schließlich wurde die gesamte Ausrüstung an die Universität von Quilmes übergeben und in den Gebäuden einer ehemaligen Tuchfabrik untergebracht. Dort installierte man 2002 große Dampf- und Heizkessel, anschließend machten sich die Lehrkräfte der Fachbereiche Lebensmitteltechnologie und Biotechnologie ans Werk.
Ihr Ziel war es, ein Produkt zu entwickeln, das nicht nur den Hunger stillte, sondern mithilfe der notwendigen Nährstoffe darüber hinaus auch für eine gesunde Entwicklung sorgte und zugleich relativ einfach zu transportieren war. Nicht für den freien Verkauf, sondern als Nahrungshilfe für Bedürftige und als Hilfe im Fall einer Naturkatastrophe.
Um das Volumen der Suppe möglichst gering zu halten, setzen die Herstellenden auf ein Konzentrat. Um die Suppe möglichst lange haltbar zu machen, füllen sie sie in Konserven ab. „Das Herstellungsverfahren für Konserven ermöglicht die Sterilisation im Behälter“, erklärt Anahí Cuellas. Ohne Zusatz- oder Konservierungsstoffe wird das Konzentrat in vier Liter fassende Dosen abgefüllt und in einem Dampfkessel mit hohem Druck und hohen Temperaturen sterilisiert.
„Das verleiht ihnen eine Haltbarkeit von zwei Jahren“, sagt Cuellas. Für das spätere Essen wird dem Konzentrat dann die doppelte Menge an Wasser beigemischt. Der Inhalt einer Vier-Liter-Dose reicht so für 50 Portionen. Bei einem Preis von umgerechnet 35 Euro pro Dose kostet eine Portion etwa 70 Cent.
60 Prozent der Kosten trägt die Universität, die restlichen 40 Prozent werden durch den Verkauf gedeckt. „Unsere Gehälter als Lehrende und Forschende werden von der Universität gezahlt, ebenso die Produktionskosten für Strom, Gas und Wasser sowie die Verwaltungskosten“, sagt Betriebsleiterin Cuellas. Hinzu kommen die Stipendien der etwa 15 studentischen Praktikantinnen und Praktikanten, die von Montag bis Freitag fünf Stunden täglich in der Suppenküche arbeiten.
Iñaki Ourracariet, 22, ist einer von ihnen. Der Lebensmitteltechnikstudent arbeitet gerade als Produktions- und Entwicklungsassistent an der Kreation der neuen Bolognesesoße. „Wir haben festgestellt, dass es den Kindern in den Volksküchen sehr an tierischem Eiweiß mangelt, obwohl unsere Suppe Fleisch enthält“, sagt Ourracariet, während er verschiedene Zutaten aus kleinen Schüsseln nimmt und sie zusammenmischt: rote Paprika, Möhren, Zwiebel, alles in kleine Würfel geschnitten. Das Hackfleisch wird später zugesetzt. Die fertige Soße wird ebenfalls als Konzentrat in Dosen abgefüllt werden, für den Verzehr mit Wasser verdünnt und kann zu verschiedenen Beilagen serviert werden.
„Wir machen jetzt die letzten Kochtests und nehmen sensorische Bewertungen vor, das heißt, wir prüfen, ob und was den Leuten am besten schmeckt“, sagt Ourracariet. In wenigen Wochen soll die Hackfleischsoße erstmals ausgeliefert werden. Beim Praktikum gehe es nicht nur darum, das Gelernte in die Praxis umzusetzen, sondern auch um soziales Engagement, betont er: „Wir bereiten hier eine Mahlzeit für Jugendliche zu, die ansonsten vielleicht ohne Essen zu Bett gegangen wären.“
Nicht alle Produkte, die in dem Unibetrieb hergestellt werden, enthalten Fleisch. Es gibt die Supersopa mit Sojaprotein oder den Reistopf nur mit Gemüse. Kein leichtes Vorhaben in einem Land, in dem sich schon aus Tradition nahezu alles ums Fleisch dreht. Dazu kommen die traditionellen Eintöpfe Estofado und Locro mit Fleisch und bald auch die Bolognese, die vielleicht eines Tages auch mit Sojaprotein statt mit Rindfleisch hergestellt werden wird.
Drei Tonnen Zutaten pro Woche
Derzeit werden zwei bis drei Tonnen Zutaten pro Woche verarbeitet. Das Ziel bis Jahresende sei es, auf fünf bis sechs Tonnen zu erhöhen. „Wir nehmen in erster Linie regionale Produkte von hiesigen Genossenschaften an“, sagt Betriebsleiterin Anahí Cuellas. Denn davon gibt es in der landwirtschaftlich fruchtbaren Provinz Buenos Aires viele.
Für Cuellas ist die Supersopa auch zu einem sozialpolitischen Barometer geworden. „Im Jahr 2002 waren wir mit einer Nahrungsmittelkrise konfrontiert. Damals gab es noch keine staatliche Unterstützung für die Volksküchen“, sagt sie. Mit den zunehmenden staatlichen Hilfsprogrammen verlor die Suppe dann an Bedeutung und im Jahr 2019 wurde die Produktion schließlich eingestellt. Seither wurde die Anlage zur Produktentwicklung für private Unternehmen genutzt.
Als 2024 die extreme Armut wieder anstieg und die neue Regierung des libertären Präsidenten Javier Milei zugleich die staatliche Unterstützung für die Volksküchen einstellte, beschloss die Universitätsleitung, die Produktion der Supersopa wieder aufzunehmen. „Die Herstellung von Dosensuppen an einer öffentlichen Universität für die Volksküchen ist auch ein Symbol des Engagements unserer Universitäten in der Region“, sagt Cuellas. Aktuell werden rund 45 Volksküchen beliefert.
Und die Nachfrage steigt. Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht rutschen in die Armut. Aus Scham gehen nur wenige zur Volksküche oder schicken nur ihr Kind dorthin. Einige Kommunen verteilen deshalb jetzt auch Kisten mit Lebensmitteln an private Haushalte. „Wir wurden darum gebeten, nun auch verstärkt kleinere Dosen herzustellen“, sagt Cuellas. Denn die passen im Gegensatz zur Standardgröße auch in die Lebensmittelkisten.
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