Wirkung von Armut auf Psyche: „Mehr Stress, weniger Ressourcen“
Viele Menschen in Armut erkranken psychisch – und umgekehrt. Ein schwer zu durchbrechender Kreislauf, sagt einer, der selbst betroffen ist.
taz: Herr David, einer Studie des Robert Koch-Instituts zufolge leiden rund ein Drittel der Männer und mehr als 40 Prozent der Frauen aus der unteren sozialen Statusgruppe an einer psychischen Erkrankung – deutlich mehr als in der mittleren und oberen Statusgruppe. Kann man also sagen: Armut macht psychisch krank?
Olivier David: Ja, definitiv. Natürlich wird nicht jede Person, die arm ist, psychisch krank. Aber es ist viel wahrscheinlicher. Das lässt sich nicht monokausal erklären, sondern es sind immer mehrere Faktoren, die zusammenwirken – und auch bei jeder Person unterschiedliche. Die Faktoren, von denen ich vermute, dass sie meine psychische Erkrankung ausgelöst haben, müssen nicht für jemand anderes gelten.
33, ist freiberuflicher Journalist. Sein Buch „Keine Aufstiegsgeschichte – warum Armut psychisch krank macht“ erscheint im Februar 2022 bei Eden Books.
Warum ist das so?
Man hat viel mehr Stressfaktoren und zugleich weniger Zeit und Ressourcen, diesen Stress zu bewältigen. Fast alles kann einem Probleme bereiten: Das geht damit los, dass man auf dem Wohnungsmarkt heftiger zu kämpfen hat – und dann tendenziell dort lebt, wo es lauter und beengter ist. Außerdem hat man kein Geld für unvorhergesehene Ausgaben übrig. Das führt andauernd zu Stress: Wie soll ich die kaputte Waschmaschine ersetzen? Wovon kann ich die Klassenfahrt meiner Kinder bezahlen? Bei mir kommt hinzu, dass ich nie gelernt habe, wie ich mit solchen Belastungen umgehen kann – was daran liegt, dass meine Eltern mir das nicht vorgelebt haben. Ich habe nicht das Gefühl entwickelt, dass ich etwas bewegen und verändern kann – für mich und für andere.
Damit sind Sie nicht allein: Studien zu Kindern in Armut zeigen, dass das Gefühl von Selbstwirksamkeit geringer ausgeprägt ist, was den Kindern später Schwierigkeiten bereiten kann. Wann haben Sie denn das erste Mal festgestellt: Meine materielle Situation – oder die materielle Situation meiner Familie – macht mich krank?
Das ist erst zwei Jahre her. Ich habe gemerkt, dass ich sehr viel Wut in mir trage, mein ganzes Leben schon, und dass das ein Muster in mir ist. An dem Punkt habe ich mir Hilfe gesucht. Je mehr ich mich dann mit mir selbst beschäftigt habe, desto größer wurden meine Probleme. Ich bin in kurzer Zeit viel schwächer geworden, habe andauernd geweint und körperliche Beschwerden entwickelt. Dabei ist mir nach und nach klar geworden, dass die Art, wie ich aufgewachsen bin, die Ursache für die Wut und meine Beschwerden ist. Das ist nicht nur die materielle Armut. Auch dass ich häusliche Gewalt erlebt habe, spielt da mit rein.
Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.
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Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das erkannt haben?
Ich war erleichtert. Ich habe gemerkt, in mir ist etwas, dem ich einen Namen geben kann und das ich bearbeiten kann: Eine seelische Verletzung, mit der ich die ganze Zeit herumlaufe und die dazu führt, dass es für mich nur eine schlechte Nachricht braucht, damit mir die ganze Welt schlecht erscheint. Alles was ich dann denken und fühlen und spüren kann, ist einfach nur ausweglos und schlecht. Es hat gut getan zu lernen, dass das zwar zu mir gehört, aber auch zu mir gekommen ist, und ich deswegen etwas dagegen tun kann.
Da waren Sie schon Anfang dreißig und hatten die Belastungen lange mit sich herumgetragen. Warum konnten Sie das erst so spät verarbeiten?
Das ging erst, als ich mich das erste Mal finanziell und sozial halbwegs abgesichert gefühlt habe. Ich war in einer Ausbildung, in der ich genug verdient habe, und in einer Beziehung, in der ich mich fallen lassen konnte. Erst dann war überhaupt der Raum da, dass alles aus mir herausbrechen konnte. Vorher habe ich immer geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich dachte aber nie, dass ich Depressionen habe. Ich dachte eher: Das ist jetzt gerade eine harte Phase, und habe mich weitergeschleppt.
Was kommt zuerst: die Armut oder die psychische Erkrankung?
Das verwebt sich ineinander und irgendwann kann man das nicht mehr voneinander trennen. Doch für mich habe ich festgestellt: Es ist die Armut, die an mich weitergegeben wurde – und unter die sich viele der Faktoren summieren lassen, die ich für meine psychischen Probleme verantwortlich mache.
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Belastet Ihre psychische Gesundheit Sie so sehr, dass es Ihnen schwerfällt, einen Beruf auszuüben, der Sie ernährt?
Unter anderem wegen meiner Psyche musste ich mein Volontariat, das ich bei einer Lokalzeitung angefangen hatte, vorzeitig beenden. Ich könnte auch heute nicht Vollzeit in einer Redaktion arbeiten – was auch daran liegt, dass ich ADHS habe und mich schwer über einen längeren Zeitraum konzentrieren kann. Das sorgt definitiv dafür, dass ich nicht viel Geld habe. Außerdem habe ich kein Abitur gemacht und nicht studiert. Deswegen: Ich bin dauerhaft von Armut bedroht.
Wie leicht ist aus Ihrer Sicht der Zugang zu Hilfe, Beratung und Diagnose?
Ich beobachte immer wieder, dass Menschen vermutlich psychische Erkrankungen haben und das nicht wissen, nicht wahrhaben wollen, oder einfach keine Zeit haben, sich damit zu beschäftigen. Die Hilfsangebote sind auch überhaupt nicht niedrigschwellig. Man wartet lange auf einen Therapieplatz und es erfordert sehr viel Eigeninitiative, an einen zu kommen. Und gerade die fällt schwer, wenn man in prekären Verhältnissen lebt. Andere Probleme scheinen da oft drängender. Deswegen ist vermutlich auch die Dunkelziffer von psychischen Erkrankungen unter Menschen, die von Armut betroffen sind, recht hoch: Die Krankheiten werden einfach oft nicht diagnostiziert.
Was muss sich in Deutschland ändern, damit junge Menschen nicht die gleichen Erfahrungen machen wie Sie?
Auf der einen Seite brauchen wir einen stärkeren Sozialstaat, mehr Therapieplätze – gerade im ländlichen Raum – und einen höheren Mindestlohn. Dann, ganz klar: Hartz IV gehört abgeschafft. Auf der anderen Seite sehe ich die riesige Care-Industrie als Teil des Problems: Sie kümmert sich darum, dass es Menschen, denen es gerade schlecht geht, ein bisschen weniger schlecht geht. Das ist kein progressiver Gedanke und ändert nichts an den Verhältnissen, die krank machen. Deshalb brauchen wir eine ernsthafte Umverteilungsdebatte.
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