Wir lassen lesen: Die Elf mit dem Adler
Vorurteilsfreier Blick auf hundert Jahre geballte deutsche Fußballgeschichte
Wenn in Deutschland ein Fußballspieler das erste Mal im Nationaltrikot kickt, reden die Fernsehkommentatoren, altväterlich wie sind, stets vom „Debütanten“. Als handele es sich um einen Initiationsritus der besonderen Art, wird etwa Frank Baumann nach dem Spiel gegen Norwegen gefragt, wie man sich denn als 800. Nationalspieler der DFB-Historie so fühle. Gerd Rubenbauer schnarrt in jedem vierten Satz weihevoll „die deutsche Fußballnationalmannschaft“, wo es auch „die deutsche Mannschaft“ oder „das Nationalteam“ getan hätte. Und wenn Mehmet Scholl in der Nachspielzeit per Freistoß trifft, ist es allen wieder egal, wie beschissen die 90 Minuten vorher gewesen sind.
Die elf Spieler mit dem Adler auf dem Trikot sind hier zu Lande von jeher in Gefahr gewesen, Gegenstand mythischer Verklärung zu sein – spätestens seit dem WM-Sieg 1954. Anders das Buch „Fußball für Millionen. Die Geschichte der deutschen Nationalmannschaft“. Es zeichnet ein deutlich nüchterneres Bild der Geschehnisse, die am 23. November 1899 in Berlin mit einer deftigen 2:13-Klatsche gegen eine englische Amateurauswahl begannen. Wo viele vergleichbare Veröffentlichungen an allzu großer DFB-Nähe krankten, verfolgt „Fußball für Millionen“ ein anderes Konzept. Das der Göttinger Schule: Wie bei den anderen Fußballbüchern und Vereinsbiografien aus dem dortigen Verlag Die Werkstatt werden Fachwissen und Fantum mit einer kritischen Perspektive verknüpft.
„Fußball für Millionen“ erzählt die Geschichte der Nationalelf politisch korrekt. Das fängt schon beim Bild auf dem Umschlag an. Da ist nicht etwa Lothar Matthäus zu sehen, sondern dessen Rivale Jürgen Klinsmann. Matthäus, dessen Abschied aus der Bundesliga derzeit zum Staatsereignis hochgeredet wird, muss sich wie Fritz Walter, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer mit einem kleinen schwarzweißen Foto begnügen. Passend dazu ist im Anhang in Klinsmanns Kurzbiografie von „einem regelrechten Kampagnenjournalismus des Springer-Konzerns“ gegen Ende seiner Laufbahn die Rede, während Matthäus als „fleißiger Lieferant von Boulevardpresse-Schlagzeilen“ charakterisiert wird.
Ähnlich pointiert beziehen die vier Autoren jenseits der ausführlichen und soliden Nacherzählung von Spielen, Toren und Turnieren häufig Stellung. Platz wird der Konkurrenz des DFB-Teams in den 20er-Jahren eingeräumt, auch den Auswahlmannschaften der Arbeitersport-Organisationen und der katholischen Deutschen Jugendkraft. Das Buch kommentiert die Spielsperre, die der DFB in den 20er-Jahren gegen Nationen verhängte, in denen Fußballspieler bereits offen bezahlt werden konnten, und thematisiert die Streitereien und Eifersüchteleien zwischen einzelnen Landesverbänden und Vereinen. Das gipfelte 1924 in der Episode, als die miteinander verfeindeten Kicker aus Nürnberg und Fürth in zwei getrennten Eisenbahnwaggons zum Länderspiel nach Amsterdam anreisten.
Später räumen die Autoren mit der Legende vom angeblich unpolitischen DFB während der 30er-Jahre auf und schildern die mannigfaltige Einflussnahme von Partei und NS-Staat. Immer geht es auch um das Geschehen neben dem Platz, eine Perspektive, die auch in der Nachkriegszeit beibehalten wird: Von den nationalistischen Auswüchsen nach den Weltmeisterschaften 1954 und 1958 bis hin zum deutschen Hooliganismus bei der EM 1992 oder der WM 1998.
Allerdings gerät das Konzept der Autoren – so gerechtfertigt es angesichts der unzähligen Bibliotheksmeter an traditioneller Fußballgeschichtsschreibung auch ist – in eine Schieflage, je mehr sich das Buch der Gegenwart nähert. Ob der aktuelle Zustand der Nationalmannschaft und ihre offenbar nachlassende Verschaltung mit den Menschen im wieder vereinigten Deutschland aus dem Geist der 68er erfassbar ist oder ein Spielertyp wie Oliver Bierhoff mit den Begrifflichkeiten der Ära Günter Netzer, muss wirklich bezweifelt werden.
Das Schlusskapitel „Quo vadis, Nationalmannschaft?“ jedenfalls bleibt trotz richtiger Stichworte – Nachwuchsmisere, Taktikdefizit, wachsende Bedeutung des Klubfußballs – im Ungefähren. Bis aber ein politisch korrekter durch einen postmodernen Blick auf den Fußball erweiterbar ist, müssen wohl noch einige Gurkenspiele der Nationalelf ins Land gehen.
Malte Oberschelp Dietrich Schulze-Marmeling, Hardy Grüne, Werner Skrentny, Hubert Dahlkamp: „Fußball für Millionen. Die Geschichte der deutschen Nationalmannschaft“. Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 512 Seiten, 49,80 DM.
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