Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“: Die bittere Wahrheit
50 Jahre ist es her, dass Bundeskanzler Willy Brandt die historische Äußerung „Mehr Demokratie wagen“ prägte. Heute ist sie wichtiger denn je.
BERLIN taz | „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Günter Grass hatte den Satz formuliert, und Willy Brandt stellte ihn an den Anfang seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969. Schon sein Griff nach der Kanzlerschaft war ein Wagnis, denn die Mehrheit, mit der er am 21. Oktober 1969 zum Kanzler gewählt wurde, betrug nur zwei Stimmen.
Demokratie wagen: das hieß in der Deutschlandpolitik – und vielleicht heißt es das für jede Politik – zuallererst, wahrhaftig zu reden, unhaltbare Positionen zu räumen, weil man auf ihnen weder stehen noch etwas Neues beginnen kann. Knapp vier Wochen nach Willy Brandts Antrittsrede unterzeichnete seine Regierung den Atomwaffensperrvertrag – für Franz Josef Strauß ein „Versailles von kosmischen Ausmaßen“ – im Sommer den Gewaltverzichtsvertrag in Moskau, im Dezember den in Warschau, verbunden mit der historischen Geste: Brandts Kniefall vor dem Mahnmal für die Toten des Warschauer Ghettos.
Innenpolitisch waren die Erwartungen groß: Reformen der Mitbestimmung, des Familienrechts, der Sozialverfassung, Bildungsreform, keynesianische Wirtschaftslenkung und, und, und. Vieles gelang nicht, vieles blieb stecken, aber für ein knappes Jahrzehnt lag Aufbruch in der Luft.
In neun Jahren gewann die SPD 700.000 neue Mitglieder. Auf ihrem linken Flügel schrieben Erhard Eppler und Jochen Steffen ein steuerpolitisches Programm, das mit progressiven Steuererhöhungen das umfangreiche Reformprogramm finanzieren sollte, aber schon bald setzte die wirtschaftliche Entwicklung dem Reformwillen enge Schranken.
Fetisch Wachstum
Helmut Schmidts Mantra hieß: „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“. Seine Regierung senkte die Unternehmensteuer, setzte unverdrossen auf Wachstum und Export. So auch die folgenden Regierungen, ob nun christ- oder sozialdemokratisch. Aber auch wenn es mit dem Konsum noch einmal richtig losging: Die Wachstumsrate sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Die SPD verlor die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler.
Als Willy Brandt 1987 den Parteivorsitz der SPD aufgab, bedauerte er, dass es seiner Partei nicht gelungen war, die Energien der APO, der Grünen, der Alternativen, der Friedensbewegung aufzunehmen, und er bezweifelte, dass es zwanzig Jahre danach seine Partei noch als „Volkspartei“ geben werde.
Vieles gelang nicht, vieles blieb stecken, aber für ein knappes Jahrzehnt lag Aufbruch in der Luft
Nach Einheitsjahrzehnt und New Economy, nach Weltwirtschafts- und Eurokrise ist unser Land gespalten wie noch nie. Aber anderswo ist es schlechter und krasser, und deshalb blieb es im Großen und Ganzen ruhig im Land. Bis vor Kurzem.
Denn jetzt hat uns etwas eingeholt: „Die Auswirkungen von Umweltschädigungen erscheinen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verschoben. […] Man sollte daraus die Lehre ziehen, dass es insgesamt schon viel später ist, als wir denken möchten. […] Es geht um nicht weniger als darum, den Zusammenbruch unseres ökologischen Systems zu verhindern.“
Mut zur Wahrheit
Das sind Sätze aus einer Rede, die Willy Brandt vor Nobelpreisträgern gehalten hat, auf einer Konferenz am 26. Juni 1972 in Lindau, vor einem halben Jahrhundert. Aber weder Ölschock, Artensterben, Klimawandel, Währungs- und Schuldenkrisen – keiner dieser Warnschüsse konnte den Glauben der Eliten, und der Mehrzahl der Bürger, an Wachstum und Konsum nachhaltig erschüttern.
Und was bedeutet nun „Mehr Demokratie wagen“ heute? Zunächst einmal nichts anderes als vor fünfzig Jahren. Etwas pathetisch und mit den Worten von Willy Brandt gesagt: den Mut, „die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie bitter ist“. Etwa die Erkenntnis, dass alle Dopingspritzen mit Zentralbankgeld keine rasante neue Wachstumswelle zurückbringen; oder dass CO2-Bepreisung nicht ausreichen wird, sondern dass einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise anstehen.
Aber Politik, das erklärte unsere Klima-Kanzlerin kürzlich in New York Greta Thunberg, bestehe darin, das Mögliche zu tun, und Aufgabe jeder Regierung sei es, alle Menschen mitzunehmen. Aber diese Schrumpfvariante von Demokratie reicht nicht mehr aus, in Zeiten, in denen das Drehen an kleinen Rädern nicht mehr genügt. Dank Hurrikans und Fridays for Future stehen die Chancen zurzeit ein wenig besser, die Bürger für ein beschwerliches, notwendiges, aber auch großartiges gesamtgesellschaftliches Projekt zu gewinnen. Für einen „Mondflug“, bei dem alle mitfliegen können und müssen, als Akteure der Veränderung von Regionen, Städten, Kiezen, Betrieben und nicht zuletzt Gewohnheiten.
Tribalismus und Streitkräfte
Und wenn man nicht mehr auf die Lernbereitschaft von Politik und Parteien setzt, wenn man das Schlimmste befürchtet? Gerade dann, so schreibt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen, müssten wir jetzt und in Zukunft „Mehr Demokratie wagen!“ Denn: „In Zeiten zunehmenden Chaos werden die Menschen Schutz durch Tribalismus und Streitkräfte suchen und nicht durch Rechtsstaatlichkeit, und unsere beste Verteidigung gegen diese Art von Dystopie besteht darin, funktionierende Demokratien zu erhalten. In dieser Hinsicht kann jede Bewegung in Richtung einer gerechteren und zivilgesellschaftlicheren Gesellschaft nun als sinnvolle Klimamaßnahme angesehen werden.“
Demonstrationen werden nicht genügen. Petitionen auch nicht. Und für den Wandel, der vor uns liegt, werden Mehrheiten von zwei Stimmen nicht ausreichen. Wie sagte Al Gore: „Erklärt euren Abgeordneten, was sie tun sollen. Und wenn sie es nicht tun, dann wählt sie ab. Und kandidiert selber.“ Vielleicht fangen wir ja überhaupt mit der Demokratie erst jetzt richtig an – vielleicht hatten wir ja bis jetzt nur – Wachstum.
Leser*innenkommentare
Nina Janovich
„Mehr Demokratie wagen“ heute? Da finde ich den Vorschlag, Abgeordneten auf die Finger zu schauen und das Versprochene einzufordern und gegebenenfalls selbst zu kandidieren aber etwas dünn. Da gibts ja erprobte Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung oder mindestens direkte Mitsprache in kommunalen Parlamenten und auf Bundesebene analog wie digital die sowohl Populismus praktisch entgegenwirkt als auch besser geeignet ist mutige Entscheidung für aktuelle Herausforderungen zu treffen. In Irland sind Bürgerräte schon etabliert:
www.br.de/br-ferns...emokratie-100.html
Auch in Deutschland steht nirgendwo geschrieben dass nur Parteien im Parlament vertreten sein dürfen und nur Kapitalschwere Wirtschaftsunternehmen mitentscheiden dürfen in auch noch intransparenten Lobbybeziehungen. Hier werden ein paar Modelle vorgestellt.
www.mdr.de/video/m.../video-330396.html
derSchreiber
Diese Kritik geht nicht an den Autor dieses sehr guten Artikels, sondern an die Macher der taz-Website.
Neben dem Absatz, in dem Herr Geffrath schreibt, dass eine CO2-Bepreises allein nicht reicht, steht eine Werbung für einen Land Rover Kompakt-SUV.
Also ebenjene Fahrzeugklasse die größer, breiter und benzinschluckender als nötig ist, einfach damit der Fahrer sich besser fühlt. Ich hab ja nichts gegen Werbung, aber zum ersten Mal enttäuscht mich die taz…
06360 (Profil gelöscht)
Gast
Und wo ist nun, in einer linken Zeitung, der Hoffnungsstrohhalm einer linken Lösung?
Steuersatz für Millionäre erhöhen?
Vermummungsverbot bei Demos und zivilen Burkas aufheben (wegen gender und so)?
Globale Solidarität (wer mit wem?)?
Enteignungen?
Brandt wurde gehypt, weil die anderen noch schlechter waren (jedenfalls in der Darstellung der Presse).
Wollen wir uns jetzt von Greta regieren lassen und wenn ja, wie?
06438 (Profil gelöscht)
Gast
Aus der Willy Brandt - Rede vom 28.Oktober 1969 :
""Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands
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aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.
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Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte – mit ihrem Glanz und Elend – verbunden; wir sind alle in Deutschland zu Haus. Wir haben auch noch gemeinsame Aufgaben und
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gemeinsame Verantwortung: für den Frieden unter uns
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und in Europa.
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War der sozialdemokratische Kanzler mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet - oder war er sich nicht sicher wie lange eine Verkrampfung nach 56 Jahren Diktatur dauert ?
Ansonsten - Nazis, Nationalsozialismus und Faschismus waren die tiefere Ursache für die Teilung und die Diktatur die nach 1949 -- 40 Jahre andauerte.
Wissen das diejenigen ""Führer"" von politischen Sammlungsbewegungen die gerichtsnotorisch abgesichert als Faschisten bezeichnet werden können?
Magarete Thatcher, 1989:
""Ich mag Deutschland so gerne - das ich sehr gern 2 Stück davon hätte.""
Jan
„Die Auswirkungen von Umweltschädigungen erscheinen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verschoben. […] Man sollte daraus die Lehre ziehen, dass es insgesamt schon viel später ist, als wir denken möchten."
Gerade im Umweltbereich hat sich in den letzten 50 Jahren viel zum Positiven verändert. Das Land ist heute viel sauberer und gesünder als damals. Ich halte auch Umweltprobleme heutzutage nicht für unserer größtes Problem, zumindest nicht in Europa.
Der Text klammert die wichtigsten Themen hingegen aus: das Abdanken des Westens als globale Ordnungsmacht, den Wandel hin zu einer multipolaren Welt mit China als ganz großem Player. Außerdem hat sich die Weltbevölkerung seit Willy Brandt nahezu verdoppelt, natürlich überwiegend außerhalb des Westens. Auch das hat Verschiebungen der Machtbalance bewirkt und den Migrationsdruck befördert. Dieser wird für drastische soziale und politische Veränderungen in den Ländern des Westens sorgen. Wir befinden uns in einem Epochenwechsel. Das 20. Jahrhundert mit seiner langen Nachkriegszeit ist endgültig vorbei und die Illusionen der späten Phase dieser Epoche (90er/2000er) vom Ende der Geschichte durch einen weltweiten Sieg der liberalen Demokratie, sind in diesem Jahrzehnt zerbrochen.
Ich finde es immer befremdlich Texte zu lesen, die unsere drängendsten Probleme lediglich in Umwelt- oder Klimaproblemen sehen und andere Dinge völlig ausklammern. Wobei man auch mal überlegen sollten, inwiefern eine Verdoppelung der Weltbevölkerung in nur 50 Jahren Einfluss auf Umwelt und Klima genommen hat.
Ansgar Reb
Nicht nur die SPD, auch CDU und CSU gewannen sehr viele Mitglieder in den 70er Jahren. Oder: bis in die 70er Jahre hielten sich die Deutschen mit Parteimitgliedschaften zurück.
88181 (Profil gelöscht)
Gast
Sie hörten: Das Wort zum Sonntag.
65572 (Profil gelöscht)
Gast
@88181 (Profil gelöscht) Völlig unpathetisch und sehr lesenswert in der aktuellen Le Monde diplomatique:
Wir sind nie demokratisch gewesen
von Stephan Lessenich
88181 (Profil gelöscht)
Gast
@65572 (Profil gelöscht) Danke für den Tip!
XXX
Sehr schöner Artikel. Schade, dass Brandt nur so kurze Zeit Bundeskanzler war. Wahrscheinlich hätten wir eine komplett andere und bessere Welt, wenn er eine Amtszeit wie Kohl oder Merkel gehabt hätte.
Jan
@XXX Dann wäre Brandts Kanzlerschaft bis 1985 gegangen. Erstmal muss man feststellen, dass der Einfluss des Bundeskanzlers auf die Weltpolitik vor 1990 sehr beschränkt war. Die alte Bundesrepublik war kein wirklich souveräner Nationalstaat und Westdeutschland hatte international nicht viel zu melden und schon gar nicht zu bestimmen. Brandts einziger Einfluss auf die Weltpolitik hätte eine Verweigerung des Nato-Doppelbeschlusses gewesen sein können. Vielleicht wäre dann die Mauer gar nicht gefallen oder eben erst viele Jahre später. Vielleicht wäre es dann gar nicht mehr zur Wiedervereinigung gekommen. Ob daraus nun eine bessere Welt geworden wäre, wage ich zu bezweifeln.