Wilde Tiere in Brandenburg: Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
In drei Wintern in Folge riss ein Wolf in Brandenburg Frank Stiers Schafe. Die Schafzucht hat der Bauer beendet, der Zorn ist geblieben.
KATERBOW/NETZEBAND taz | Der Winter hat ein eisiges Laken über die Felder geworfen, nur der Wald steht wie eine graue Wand. Dort hat der Wolf die Witterung aufgenommen. „Der kam von da oben die Pappeln entlang. Hier hat er sich durchgebuddelt.“ Frank Stier weist mit einer Krücke zum Ende des Maschendrahts. „Und dann war er mang de Schafe.“ Sieben Tiere hat er in Katerbow, einem Dorf mit 250 Einwohnern, gerissen.
Der 53-jährige Frank Stier hat sich trotz Knieschmerzen hinters Haus geschleppt, um zu zeigen, wo sich der Wolf im Januar 2012 vollgefressen hat. Die letzten Schafe hat er unterm Fenster des Nachbarn getötet. Ein Bewegungsmelder sprang an, der Hof war taghell, doch der Eindringling war wie berauscht. „Der Wolf geht gezielt an die Drossel ran, erwürgt die Tiere.“ Stier drückt mit seiner Pranke zu, als würde er eine Kehle packen. „Dann geht er an die Weichteile, dann an die Keulen.“
Frank Stier steht trotzdem so unerschütterlich in der Landschaft wie der Kirchturm in der Ferne. Das hier, die Birken, das Gatter, die Ställe, ist sein Reich, hier führt er das Regiment. Dann hebt er ächzend die Krücke hoch, und es scheint, als greife er ein Gewehr. Stier ist nebenbei Jäger. Doch der Wolf hat Stier ausgetrickst, kam, als der Hausherr im Wald Rotwild beobachtete. „Mit einem Mal waren die Hirsche wie vom Erdboden verschluckt“, erinnert sich Stier. Einen solchen siebten Sinn müsste man haben.
Das Tier: Der streng geschützte Wolf kehrte Mitte der 1990er Jahre aus Polen kommend nach Deutschland zurück. Das erste Rudel wurde im Jahr 2000 auf einem Truppenübungsplatz in der Lausitz nachgewiesen. Derzeit leben dreizehn Rudel in der Lausitz (Sachsen und Brandenburg), ein Rudel in Sachsen-Anhalt, sowie zwei Paare in Niedersachsen; zudem gibt es einzelne Tiere in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.
Der Konflikt: Das Potsdamer Umweltministerium schätzt die Zahl der Wölfe in Brandenburg auf 70 bis 90 Tiere und zählte bisher Risse von 303 Schafen, 4 Ziegen, 5 Kälbern sowie 51 Stück Damwild. Um Konflikte mit Bauern und Jägern zu minimieren, wurde im Januar ein Managementplan vorgestellt. Ziele sind Schadensbegrenzung, Aufklärung und eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit.
Menschen haben keinen, und deswegen hat Stier seine kleine Schafzucht aufgegeben, hat kapituliert vor dem neuen Nachbarn, der auf dem ehemaligen „Bombodrom“, dem 150 Quadratkilometer großen früheren Truppenübungsplatz, haust, der die Bauern in der Ruppiner Heide im Nordwesten Brandenburgs beunruhigt und der mit dem Segen der Landesregierung auf Raubzug geht, dem die Herren den roten Teppich ausrollen, Broschüren drucken und die „Heimkehr des Wolfes“ feiern, als würde ein vierbeiniger Messias begrüßt. Und die Bauern sollen stillhalten. Die Vorfahren müssten in der Erde rumoren.
"Das ist meine Wiese!"
So in etwa lässt sich die Gemütslage von Frank Stier beschreiben. Jetzt sitzt er im Haus und stärkt sich mit Stullen und Hagebuttentee. „Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, du kannst hinterm Haus keine Schafe mehr halten, weil der Wolf sie reißt, den hätte ich ins Krankenhaus geschickt.“ Stier muss lachen. „Jetzt denken wir mal zehn Jahre weiter.“ Er schüttelt seinen Kopf. „Wer einen Wolf sehen will, soll in den Tierpark gehen. Aber hier“, und nun hackt er mit der Handkante jedes Wort einzeln in den Tisch, „gehört – er – nicht – hin!“
In drei Wintern in Folge kam der Wolf zu Frank Stier. Beim ersten Mal gab es Schadenersatz, beim zweiten Mal auch, beim dritten Mal war Schluss. Warum? Er hätte einen Elektrozaun aufstellen müssen, der tief in der Erde stecken muss, wie es nun Vorschrift ist. Nur dann bekäme er weiter Entschädigung. Denn nach zwei Wolfsrissen war klar – Frank Stier lebt in einem Wolfsgebiet.
Das alles haben ihm die „Wolfsleute“ eingetrichtert, die ihn nach dem ersten Beutezug besucht haben. Stier hat seine Lehre gezogen. „Nee, Schafe gibt’s bei mir nicht mehr.“ Warum sollte er einen neuen Zaun kaufen? Warum sollte sich ein Bauer von einem dahergelaufenen Tier vorschreiben lassen, wie sein Hof auszusehen hat? Stier lässt die Hand wieder hacken: „Ich sehe das nicht ein. Das ist meine Wiese! Das sind meine Tiere! Und wenn irgendjemand glaubt, der Wolf muss hierher, dann muss er dafür sorgen, dass nichts passiert!“
Gibt es was zu bejubeln, weil sich der Wolf rings um Berlin ausbreitet? Wölfe sind keine Maskottchen. Sie passen nicht hierher. Nur wollten das die „Wolfsleute“, diese „Wolfsbrüder“, nicht kapieren. „Die haben nur Angst, dass der Wolf auf die Pferde geht. Dann haben sie die Pferdezüchter auf dem Hals“, sinniert er. „Dann würden selbst die Berliner aufhorchen.“ Stier lacht bitter. Allerdings wird der Wolf wohl keine Pferde anfallen, räumt er ein. „Nee“, schließt er, „bei dem Wolf bin ich absolut dagegen!“
Beim Wolf fühlen alle mit
Und jetzt, wo der Bauer kocht, brechen immer neue Klagen hervor. Warum werden Stier die Häute und die Innereien nicht vergütet, wenn er seine Mastbullen an den Schlachthof verkauft? Warum winkt die Polizei nur noch ab, wenn ihm Diesel aus dem Trecker geklaut wird? Und warum ballern steinreiche Jagdpächter aus dem Westen hier auf alles, was ihnen vor die Flinte kommt, ohne dass sich wer aufregt? Nur beim Wolf sind alle mitfühlend. Stier dreht seinen Kopf, als würde ihm der Hals zu eng, dann greift er eine Stulle. Der Ärger kostet Energie. Und irgendwo draußen lacht sich der Wolf ins Fäustchen.
Soll er heute Nacht auf die Jagd gehen? Gastwirt Rainer Jeetz blickt zum Himmel hinauf. Gestern war Vollmond. Rehe und Hirsche sind aktiv. Jeetz war am Nachmittag bei Frank Stier, hat sich einen Eimer Mais geholt. Der 55-jährige Jeetz wirkt bedächtiger als Stier. Für einen Jäger ist das sicher von Vorteil, für einen Gastwirt sowieso. Jeetz will erst einmal abwarten, wer heute Abend in seiner Kneipe in Netzeband, zwei Kilometer nördlich von Katerbow, einkehrt.
Eine Herzensfreude ist es eigentlich nicht, stundenlang bei Frost auf dem Hochsitz zu hocken, gibt er zu. Eigentlich braucht Jeetz auch gar nicht zu jagen. Vor seiner Kneipe äst Damwild, Jeetz müsste sich nur bedienen. Es ist sein Besitz. Das Gehege ist zwei Fußballfelder groß und mit Maschendraht umzäunt.
Elf Augenpaare glotzen von Ferne, als Jeetz den Mais verstreut. Vor gut zwei Jahren hat sich der Wolf unterm Zaun durchgegraben, sieben Tiere gerissen und beim Nachbarn sieben Schafe. „Massaker auf der Weide“ titelte die Regionalzeitung, als wäre der Krieg zurückgekehrt. „Die Kälber haben sich hier in der Ecke versteckt“, erzählt Jeetz, die anderen Tiere hat der Wolf durchs Gehege gehetzt. Am Morgen lagen sechs weibliche Tiere und ein junger Bock im Gras. Raben kreisten.
Nur ein Hirsch überlebt
Für den einzigen überlebenden Hirsch hatte das Blutvergießen handfeste Folgen, berichtet Jeetz. Weil der brünftige Bock keine Weibchen mehr fand, ist er mit einem gewaltigen Satz über den Zaun auf und davon. Die Natur ist eben stärker als jedes Menschenwerk. Das ist bei Wölfen nicht anders. Einen Elektrozaun habe er sich gar nicht erst zugelegt, erzählt Jeetz. Immerhin, in der Dämmerung leuchtet zwischen den Erlen rot-weißes Absperrband, auch ein brauchbarer Schutz gegen den Wolf. Zumindest bis jetzt.
Vorsichtig kommen die Damtiere im Gänsemarsch. Jede menschliche Geste lässt sie sofort erstarren. Doch plötzlich brechen übermütige aus der Reihe und springen grazil wie Balletttänzer aufs Abendessen zu. „Knast hamse!“, sagt Jeetz zufrieden, geht hinüber und schließt die Kneipe auf.
Netzeband hat hundert Einwohner, ein paar Häuser und viel Grün dazwischen. Ein Gutspark und die restaurierte klassizistische Kirche bilden die Ortsmitte. Das Gutshaus steht abseits. Putz bröckelt und die nackten Ziegel neben der Tür wirken wie Grind. Allein die Leuchtreklame für die Kneipe haucht dem Kasten Leben ein.
Es sind unerfahrene Wölfe
In der Gaststube schiebt Jeetz Holzscheite nach. Der Kachelofen bullert. An den Wänden künden Trophäen von den Streifzügen des Wirts, ein Sechzehnender, ein Vierzehnender, allerlei Gehörne, Keilerzähne, dazu ein Fuchs, vom Zigarettenrauch konserviert.
1844 wurde in Brandenburg der letzte Wolf erlegt. Jeetz wäre zufrieden, wenn das das Ende des märkischen Wolfs geblieben wäre. Wolfsexperten versichern, dass die Tiere, von Neugier getrieben, nur bis an die Dorfgrenze kommen. Oft sind es junge, unerfahrene Wölfe, die in Gatter und Gehege einfallen. Doch was, wenn das Dorf so winzig ist wie Netzeband?
Da werde selbst manchem Naturfreund aus der Großstadt mulmig. „Eine Frau aus Berlin trägt seitdem ein Messer mit sich, wenn sie spazieren geht“, feixt Jeetz. Sinnvoller wäre es, dem Tier die ungehinderte Rückkehr zu vergällen, glaubt er. Warum sollte der Wolf, wenn er das „Bombodrom“ verlässt und an die Dörfer kommt, nicht gejagt werden dürfen? „Bei uns wird er so geheiligt, der Wolf, und bei den Russen kriegste noch Geld, wenn du ihn schießt.“ Rainer Jeetz, überm Tresen gebeugt, träumt sich gerade nach Russland hinein.
Nicht weit von hier in der Prignitz haben sich vor Kurzem Wolfsgegner versammelt. Von bösartigen Tieren und der „Zeitbombe“ Wolf war die Rede. Der Kyritz-Ruppiner Wolf – ein einzelner Rüde – mobilisiert wie ein ganzes Bataillon, dabei stehen Wolfshochzeit und Rudelgründung noch aus. Die Angst scheint den Leuten vererbt zu sein. Im Dreißigjährigen Krieg grassierte eine Wolfsplage, weil sich die Tiere an den Leichen satt fraßen. So ein Untier verschlingt auch Großmütter und kleine Kinder. Nur der Jäger brachte Rettung.
Der Mond taucht auf
Heute schickt man sich an, die Probleme auf moderne Weise zu lösen. Ein neues Wolfsmanagement soll in Brandenburg die Konflikte begrenzen. Es geht um Aufklärung, Prävention, Entschädigung – und um Empathie. „Wie Menschen leben auch Wölfe gern in Familiengruppen, um in Gemeinschaft den Alltag zu bewältigen“, würdigt die Brandenburger Umweltministerin Anita Tack von der Linkspartei in der Broschüre „Wölfe in Brandenburg“ den Zuwanderer. So viel Herzenswärme bleibt vielen Bauern von ihrer Regierung versagt.
Am Abend klart es auf. Der Mond taucht hinter Wolken hervor. Vor dem Gutshaus verlieren sich die Fährten. In Katerbow parkt Stiers Auto vor der Tür. Als hätten sich die Nachbarn verabredet, strahlt überall noch Weihnachtsglanz. Bei Stiers ein Schwibbogen, nebenan funkelt ein Tannenbaum, andere haben die Lichterkette brennen. Es scheint wie Magie, wie Knoblauch gegen Vampire. Ein Bewegungsmelder schlägt an. Ein Hund kläfft, eine Katze springt über den Weg. Der Wolf wurde in der Gegend zuletzt im Dezember gesichtet. Da hat er Kamerunschafe gerissen.
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