Wiederholung der Wahlen in Berlin: „Vernünftig durch die Krisen bringen“
Trotz der absehbaren Wahlwiederholung darf das Abgeordnetenhaus nicht in den Wahlkampfmodus schalten, fordert Sebastian Schlüsselburg (Linke).
taz: Herr Schlüsselburg, gehen Sie davon aus, dass bis Ende März eine Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl stattfindet und Sie wieder zur Wahl stehen?
Sebastian Schlüsselburg: Ja. Ich denke, es wird innerhalb von höchstens 180 Tagen zu einer Wiederholung kommen. Das ist nach der Anhörung des Verfassungsgerichtshofs am Mittwoch, an der ich teilgenommen habe, absehbar. Und darauf müssen sich jetzt alle vorbereiten.
Das heißt, Sie haben umgeschaltet in den Wahlkampfmodus?
Unser Wahlkampf als Linke wird darin bestehen, dass wir die Berlinerinnen und Berliner vernünftig durch diesen Winter und die vielfältigen Krisen bringen. Wir sind als Parlament – das wurde vom Gericht noch mal betont – bis zum Zusammentritt des dann wiederholt gewählten Abgeordnetenhauses voll handlungsfähig.
Was steht jetzt für das Parlament an?
Wir müssen jetzt schnell den Nachtragshaushalt mit einem Volumen von mindestens 1,5 Milliarden Euro beschließen, um das Berliner Entlastungspaket ergänzend zum Bund machen zu können. Und wir müssen trotz des veränderten Zeithorizonts verantwortungsvoll den nächsten Doppelhaushalt vorbereiten. Ich kann da nur an das Verantwortungsbewusstsein von unseren Koalitionspartnern SPD und Grünen appellieren, dass es jetzt keine Blockaden gibt.
Aber die Arbeit an Gesetzentwürfen, für die es absehbar noch mehr als drei Monate braucht, kann man doch einstellen.
Wir müssen schauen, welche Anträge und welche Gesetze wir mit einer Notwendigkeit versehen. Wir können uns nicht leisten, die Arbeit nur noch auf ein Minimum zu reduzieren und in den Wahlkampfmodus zu schalten, wie das sonst vor einer Wahl geschieht.
Kommen wir noch mal auf die Sitzung des Gerichts zurück. Von dessen Argumentation waren alle überrascht. Kurz zusammengefasst: Wieso?
Sebastian Schlüsselburg, 39, ist rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 verteidigte er sein Direktmandat im Wahlkreis Lichtenberg 4
Für Juristinnen und Juristen, egal welcher Colour, war überraschend, dass das Landesverfassungsgericht weitergehende Maßstäbe für die Beurteilung von Fehlern anlegt, als das Bundesverfassungsgericht – zuletzt in diesem Februar – und auch alle anderen Landesverfassungsgerichte bisher.
Könnte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Berliner Verfassungsgericht wieder kassieren?
Theoretisch ja. Aber dafür müssten die Berliner Richterinnen und Richter dem Verfassungsgericht ihre Entscheidung vorlegen. Damit rechnet derzeit niemand.
Am Mittwoch wurde sehr viel auch über Gerechtigkeit im weitesten Sinne gesprochen. Sind nicht jene Abgeordnete, die mit einer soliden Mehrheit gewählt wurden wie Sie ja auch, ein bisschen säuerlich, dass sie jetzt noch mal antreten müssten?
Also ich bin nicht säuerlich. Ich glaube, auch die meisten der anderen Kolleginnen und Kollegen, die mit einem sehr deutlichen Vorsprung gewählt wurden und in deren Wahlkreisen es keine bekannten Fehler gegeben hat, sind nicht säuerlich. Wenn da jemand säuerlich sein könnte, dann sind es die Wählerinnen und Wähler, die in den Wahlkreisen, in denen es tatsächlich ordnungsgemäß abgelaufen ist, ihre Abgeordneten für fünf Jahre gewählt haben. Aber letzten Endes muss in einem Rechtsstaat das Verfassungsgericht diese Abwägung vornehmen. Und diese fällt offensichtlich im Moment so aus, dass die Richterinnen und Richter sagen, die Fehler waren so gravierend, dass das mit einer vollständigen Wiederholungswahl geheilt werden muss. Das haben wir dann zur Kenntnis zu nehmen.
Bleibt die Frage nach der Gerechtigkeit.
Klar ist die Frage diskutiert worden, ob es gerecht ist, wegen nachgewiesener Fehler in 10 Prozent der Wahllokale die ordnungsgemäß abgegeben Stimmen in den 90 Prozent übrigen Wahllokalen zu annulieren. Aber wie gesagt, wir haben in Berlin nur ein einstufiges Wahlprüfverfahren durch unser Landesverfassungsgericht, das unabhängig ist. Es ist der Schiedsrichter unserer Verfassung.
Womit müssen die Wählerinnen und Wähler rechnen im Wahlkampf, den es ja doch geben wird?
Das kommt darauf an, wie die Parteien den Wahlkampf führen werden. Rein rechtlich haben wir es mit einer Wiederholung der Wahl zu tun und nicht einer Neuwahl. Das bedeutet, es wird in den Parteien keine Nominierungsverfahren geben. Es wird mit den Stimmzetteln und den Kandidatinnen und Kandidaten der vergangenen Wahl erneut gewählt.
Und wird auf dreieinhalb Jahre gewählt werden oder auf eine volle Legislatur?
Diese Frage scheint mir noch unbeantwortet zu sein. Das Gericht hat sich dazu nicht geäußert.
Holen Sie ihre alten Plakate von 2021 wieder raus?
Das weiß ich noch nicht. Zwar ist die Wahl formaljuristisch – sofern das Verfassungsgericht bei seiner Auffassung bleibt – eine Wiederholungswahl. De facto haben wir eine komplett andere politische Situation. Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine läuft, wir haben eine veritable Inflation, wir haben eine veritable Wärme- und Energiekrise und wir steuern mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine nachhaltige Rezession im nächsten Jahr zu. Die Wählerinnen und Wähler stimmen in einem völlig neuen Setting über ihr Abgeordnetenhaus und über ihre Bezirksverordnetenversammlung und gegebenenfalls auch über die Berliner Sitze im Bundestag ab. Natürlich wird das Auswirkungen darauf haben, mit welchen Inhalten man in die – in Anführungszeichen – heiße kurze Wahlkampfphase reingeht.
Ein großes Thema im Wahlkampf 2021 war die Enteignungsfrage, die auch Sie auf ihren Plakaten zum Thema gemacht haben.
Es ist schon eine Besonderheit, dass voraussichtlich der einzig legitime Akt ausgeübter Staatsgewalt vom 26. September 2021 der erfolgreiche Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen gewesen ist – der leider immer noch nicht umgesetzt ist. Diese Abstimmung hat Bestand. Das heißt aus unserer Sicht, dass das Ergebnis des Volksentscheids sogar mit noch größerem Nachdruck zu berücksichtigen ist. Die Frage der Vergesellschaftung steht zudem bundespolitisch für die Energiekonzerne auf der Tagesordnung, genauso wie die Aussetzung der Schuldenbremse; letzteres haben gerade Berlin und acht weitere Bundesländer in der Ministerpräsidentenkonferenz gefordert. Das sind Punkte, die die Wählerinnen und Wähler auf den Wahlplakaten finden könnten.
Aber diese Fragen müssen bis zum Wahltag doch längst geklärt sein.
Das bleibt zu hoffen. Aber ausgemacht ist das nicht. Das heißt, die Wählerinnen und Wähler müssen zum Zeitpunkt X für sich bewerten, wie wichtig ihnen diese Punkte sind.
Jetzt sind Sie doch im Wahlkampf!
Nein, das ist kein Wahlkampf. Die Linke hat mit Katja Kipping und Klaus Lederer …
… der Sozialsenatorin und dem Kultursenator…
… zwei sehr bewährte Krisenmanager:innen, die sich darauf konzentrieren, die Berlinerinnen und Berliner in den nächsten 180 Tagen minus X so gut wie möglich durch diese Krise zu bringen. Da stehen Entscheidungen an im Land, aber auch auf Bundesebene – und darauf konzentrieren wir uns jetzt.
Diese Argumentation des Berliner Verfassungsgerichtshofs könnte dazu führen, dass auch der Bundestag entscheidet, diese Wahl in Berlin komplett zu wiederholen. Das würde die sehr interessante Frage aufwerfen, ob die Linke überhaupt im Bundestag bleibt, weil sie nur über drei Direktmandate den Sprung in den Bundestag geschafft hat. Und zwei davon waren in Berlin.
Das kann eine Konsequenz sein. Für uns als Linke heißt das, dass wir unbedingt unsere Wählerinnen und Wähler davon überzeugen müssen, Gesine Lötzsch und Gregor Gysi wieder mit Direktmandaten auszustatten. Es ist noch nie so klar gewesen, dass es eine linke Stimme im Bundestag braucht.
Macht Ihnen diese Situation Angst? Es ist ja klar, dass sich die CDU und auch viele andere politischen Kräfte sehr intensiv auf diese Wahlkreise konzentrieren würden.
Unsere politischen Konkurrenten werden ein großes Interesse daran haben, die Linke aus dem Bundestag zu treiben. Da mache ich mir überhaupt keine Illusionen. Aber das Gute ist ja, dass es nicht diese Parteien sind, die das entscheiden, sondern die Wählerinnen und Wähler.
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