Wiederaufbau nach Erdbeben in Türkei: Erbauend solidarisch
Im türkischen Erdbebengebiet helfen sich die Betroffenen, ihre Heimatorte wieder aufzubauen. Von Erdoğans Regierung erhalten sie nur wenig Unterstützung.
W ir produzieren hier jeden Tag 200.000 Mahlzeiten!“ 200.000 Mahlzeiten, das muss doch wohl 2.000 oder 20.000 heißen? Nein, Kadir schüttelt energisch den Kopf. „200.000 Mahlzeiten am Tag. Alle, die hier arbeiten, sind Freiwillige, die für eine Woche, manchmal auch zwei oder drei Wochen hier arbeiten, um die Erdbebenopfer zu unterstützen. Das Ganze ist rein zivilgesellschaftlich organisiert, die Lebensmittel, die wir hier jeden Tag verarbeiten, sind alles Spenden.“ Es ist schier unglaublich, aber tatsächlich sind bei unserem Besuch auf dem Universitätsgelände von İskenderun mehr als 200 vorwiegend junge Leute in verschiedenen Sälen emsig damit beschäftigt, Mahlzeiten vorzubereiten.
Von der Warenannahme, wo Unmengen an Reis, Nudeln, Kartoffeln und Gemüse gelagert sind, über den Saal, wo das Gemüse zum Kochen vorbereitet wird, bis zu den Kochkesseln und dem Saal, wo die Mahlzeiten abgepackt werden: Alles wirkt wie eine professionelle Großküche für einen Cateringservice, nur dass die meisten Leute hier fröhlich und hochmotiviert sind, so ganz anders, als es in einer normalen Großküche aussehen würde. Fast alle tragen ein T-Shirt oder eine Schürze, auf der „Gönül Mutfağı“ steht, übersetzt ungefähr „Küche der Herzen“.
Diese Küche ist umso erstaunlicher, weil der Kontrast zur unmittelbaren Umgebung so dramatisch ist. Denn während in der Küche begeistert gearbeitet wird, herrscht ringsherum in İskenderun ein Bild endloser Tristesse. Zerstörte Häuser, Schuttberge neben bereits freigeräumten Grundstücken und noch aufrechten aber unbewohnbaren Häusern. Dazwischen Zelte von verschiedenen Hilfsorganisationen und erste Containersiedlungen. Die meisten Menschen, die man dort sieht, sitzen mehr oder weniger apathisch vor den Trümmern ihrer vormaligen Existenz.
İskenderun, die Hafenstadt am gleichnamigen Golf von İskenderun am östlichen Rand des Mittelmeeres, ist weitgehend zerstört. Rund die Hälfte aller Häuser sind nicht mehr bewohnbar. Vor allem im Zentrum, da, wo mehr als zehnstöckige Gebäude dominierten, ist viel zusammengebrochen. Aber İskenderun funktioniert noch als Stadt. Es gibt noch normale Geschäfte, die geöffnet sind und auch einige öffentliche Gebäude, die noch funktionieren. Wenn man von Westen, von Adana kommt, ist İskenderun die erste vom Erdbeben massiv betroffene Großstadt, die man erreicht.
Kadir Sancar, Bauingenieur aus Istanbul
Auch deswegen haben Kadir Sancar und Ebru Baybarademir vor zwei Monaten, nur zwei Tage nachdem das Beben vom 6. Februar die gesamte Region erschüttert hatte, hier ihre Küche der Herzen aufgemacht. Kadir Sancar ist Bauingenieur und hat eine Firma in Istanbul. „Als ich am Tag des Bebens die Bilder des Elends gesehen habe, habe ich sofort beschlossen, dorthin zu gehen, um etwas zu tun. Mein Vater, der sich schon vom Geschäft zurückgezogen hatte, musste wieder übernehmen und ich bin los. Hier habe ich dann Ebru getroffen, die die Idee hatte, eine Küche aufzumachen“, erzählt Kadir. „Wasser und Essen war das, was die meisten Leute, die das Beben überlebt hatten, am dringendsten brauchten“, sagt Kadir. „Ich war von der Idee sofort überzeugt.“
„Wir haben dann weitere Freunde und Bekannte angerufen, eine Website erstellt und über Facebook, Instagram, Twitter und andere soziale Medien um Spenden und freiwillige HelferInnen gebeten. Die Resonanz war überwältigend, alle wollten helfen.“ Von tausend Mahlzeiten in den ersten Tagen ging es dann schnell weiter. „Der Bedarf war und ist riesig.“
Die Menschenmenge, die am Eingang zur Küche darauf wartet, um Essen oder auch nur Lebensmittel zum Selbstkochen abzuholen, bestätigt Kadirs Aussage eindrucksvoll. Doch den allergrößten Teil ihrer Mahlzeiten liefern sie in die Zeltstädte und Containersiedlungen nicht nur in İskenderun, sondern auch nach Antakya und Samandağ, bis zu hundert Kilometer entfernt. Auf die Frage, ob ihre Arbeit nicht eigentlich der Staat oder der staatliche Katastrophenschutz AFAD machen müsste, schüttelt Kadir den Kopf. „Das interessiert uns überhaupt nicht. Wir machen hier voll fokussiert unser Ding. Ich bin jetzt seit zwei Monaten hier und habe in der Zeit so gut wie keine Nachrichten gesehen oder irgendwelche politischen Debatten verfolgt.“
Kadir sitzt vor einem Computer und ist hauptsächlich für die Organisation zuständig, Ebru komponiert die Mahlzeiten und dirigiert die Küche. „Sie ist die Queen von Gönül Mutfağı“, sagt Kadir. „Aber wir sind hier wie eine große Familie und jede/jeder die oder der mitarbeiten will, ist willkommen. Ihr könnt gleich hierbleiben“, meint Ebru, „wir brauchen noch Männer.“
Doch so herzerwärmend die Solidarität in der Küche von İskenderun ist, wir fahren weiter nach Süden. „İskenderun ist schlimm“, hatte Kadir uns mit auf den Weg gegeben, „doch Antakya ist unvorstellbar.“ Tatsächlich bereiten einen keine Fotos und keine Fernsehberichte darauf vor, was einen in Antakya erwartet. Die Stadt, die vor dem Beben mehr als 400.000 Einwohner hatte, existiert praktisch nicht mehr. Antakya am Orontes, das antike Antiochia, vor mehr als 2.000 Jahren von den Seleukiden gegründet, zu Roms besten Zeiten neben Alexandria die größte Stadt des Reiches am östlichen Mittelmeer, ist ausradiert.
Schon wenn man sich der ehemaligen Stadt nähert, wird die Sicht schlechter, wie im Nebel. Es ist aber kein Nebel, sondern der dichte Staubschleier, der aufgewirbelt durch die Schutträumung und den Abriss der Ruinen über dem gesamten Katastrophengebiet liegt. Tausende Bagger, schwere Räumfahrzeuge und Schuttlaster sind an jeder Ecke unterwegs.
Als sich in den ersten Tagen nach der Katastrophe schnell zeigte, dass die Regierung von Präsident Erdoğan nicht in der Lage war, den betroffenen Gebieten ausreichend zu helfen, übernahm Istanbul die Patenschaft für Antakya. Es scheint, als sei der gesamte Fuhrpark der Millionenmetropole vom Bosporus mittlerweile hier vor Ort. Antakya ist die vom Beben am 6. Februar und dem zweiten Beben am 20. Februar am schlimmsten betroffene Stadt der Türkei. Wie es jenseits der nur 30 Kilometer entfernten syrischen Grenze aussieht, weiß hier niemand. Aber das Grauen von Antakya reicht auch völlig, um an nichts anderes mehr zu denken. Verloren sitzt eine Frau von der LehrerInnengewerkschaft vor einem Zelt, auf dem groß „Koordination“ steht, doch es gibt nichts mehr zu koordinieren. Die meisten Bewohner haben die Stadt zwei Monate nach dem Beben längst verlassen.
Im alten Basar, der inmitten eines riesigen Trümmerfelds nicht mehr wiederzuerkennen ist, versuchen einige wenige Händler noch, ihren Laden wieder in Betrieb zu nehmen, doch es ist mehr ein Akt der Verzweiflung als ein ernsthaftes Zeichen für die Zukunft. Die meisten Bewohner sind überzeugt davon, dass die Stadt keine Zukunft mehr hat. „Wir gehen zu Verwandten nach Izmir“, erzählt ein Familienvater, der neben einem Lkw steht, auf dem gerade einige Sachen verstaut werden, die er noch aus der ehemaligen Wohnung gerettet hat. Er ist nicht der Einzige. An etlichen Häusern, die zwar kaputt, aber noch nicht eingestürzt sind, lehnen große Leitern, über die die Leute in ihre Wohnungen klettern, um noch einige Wertgegenstände zu retten. „Wir wollen schnellstmöglich wieder weg hier“, sagt der Mann neben dem Lkw, und man kann ihn gut verstehen. Selbst nach ein paar Stunden ist das Bedürfnis, aus den Trümmern dieser Stadt wieder zu verschwinden, schier überwältigend.
Hacer Bülbül dagegen will bleiben. Die 36-jährige Frau sitzt unter einem Vordach vor ihrem Container und erzählt lebhaft, wie sie versucht, das Überleben nach der Katastrophe zu organisieren. Der Container von Hacer Bülbül steht allerdings auch nicht in Antakya, sondern in dem Dorf Boğazköy in der Nähe der vom Erdbeben ebenfalls stark betroffenen Kleinstadt İslahiye, gut 100 Kilometer nordöstlich von Antakya. Im Dorf sieht es natürlich anders aus als in den Städten der Katastrophenregion. Die höchstens zweistöckigen Häuser standen in erheblichem Abstand voneinander und alles sieht nicht so schlimm aus, weil ringsherum eine fantastisch grüne Frühlingslandschaft das Elend überdeckt. Dafür versinkt man nach etlichen Regentagen jenseits der einzigen befestigten Straße im Schlamm.
Hacer Bülbül kommt zwar ursprünglich aus dem Dorf, hat aber seit Langem zunächst in Gaziantep und dann in Istanbul gelebt. Sie ist Marketingexpertin, hat andere Leute gecoacht und ihre Ideen erfolgreich über Instagram verbreitet. Ihre gut 30.000 Follower hat sie dann auch mobilisiert, nachdem sie wie Kadir Sancar ebenfalls nach dem Beben von Istanbul aus sofort in ihr Dorf aufgebrochen war.
Hacer Bülbül ist so etwas wie eine One-Woman-NGO. Als die Dörfler einschließlich ihres, wie sie sagt, „unfähigen“ Bürgermeisters wie betäubt neben den Trümmern ihrer Häuser saßen, hat sie angefangen, über Instagram Zelte, Decken, Öfen und „was man sonst so braucht, um im Zelt zu leben“, zu organisieren. Bald kamen ganze Lkw-Ladungen aus allen Teilen der Türkei in Boğazköy an. Hacer hat sich mit der Gendarmerie im Ort zusammengetan, um die Zelte und die anderen Sachen zu verteilen. Als der Bürgermeister den syrischen Flüchtlingen im Dorf keine Zelte geben wollte, hat sie durchgesetzt, dass die „natürlich“ auch welche bekommen.
Hacer Bülbül ist eine von vielen Freiwilligen in der Region, die nicht auf den Staat warten, sondern die Hilfe selbst in die Hand genommen haben. Oft sind es Frauen, die die Initiative ergreifen. Vor dem Staat muss man sich eher in Acht nehmen, sagt Hacer, weil die staatliche Katastrophenhilfe AFAD dazu neigt, privat organisierte Hilfslieferungen zu beschlagnahmen. Deswegen hat sie sich mit den örtlichen Gendarmen zusammengetan.
İskender Yıldırım, Bürgermeister von Gölbaşı von der Partei CHP
Was Hacer Bülbül im Kleinen in Boğazköy macht, macht Mukkader Mese in etwas größerem Stil von Gaziantep aus. Gaziantep, mit knapp 2 Millionen Einwohnern die größte Stadt innerhalb der Erdbebenregion, hat wie durch ein Wunder überlebt. Es sind zwar einige Häuser eingestürzt und etliche unbewohnbar geworden, doch überwiegend ist Gaziantep intakt. Trotzdem, erzählt Mukkader Mese in einem Café im Stadtzentrum, waren die ersten Tage nach den Beben furchtbar. Sie erzählt von ihrem Bruder, der bei der Polizei ist. Er hatte in der Nacht des Bebens Dienst und saß vor den Kontrollmonitoren, mit denen der größte Teil der Stadt überwacht wird. Wie in einem Horrorfilm sah er dort in Echtzeit, wie sein eigenes Haus, in dem seine Frau und Kinder schliefen, sich langsam aus der Verankerung löste und gegen das Nachbarhaus kippte. „Wir sind sofort dahin, doch es hat Stunden gedauert, bis wir meine Schwägerin und die Kinder aus dem Haus bekommen haben. Danach stellte sich sofort die Frage, wohin mit den Leuten, die gerade ihr Zuhause verloren hatten.“
Mukkader Mese gehört zu den wohlhabenden Leuten in Gaziantep. Ihr gehört eine Privatschule. „Ich habe die Schule aufgemacht und erst einmal alle Leute aus dem Bekanntenkreis und natürlich auch die Familien meiner SchülerInnen eingeladen, dort hinzukommen. Eine Woche lang haben wir dort eine Art Camp organisiert, zeitweilig waren vierhundert Leute da.“ Es dauerte eine gute Woche, bis die Leute nach und nach entweder wieder nach Hause gehen konnten oder die Stadt verlassen haben.
In der Zwischenzeit hatten sich allerdings die schlimmen Nachrichten aus den umliegenden Dörfern und Kleinstädten in der Region herumgesprochen. Auch Mitglieder aus der weitläufigen Verwandtschaft von Mukkader waren betroffen. „Gemeinsam mit den durchweg wohlhabenden Eltern meiner SchülerInnen und der Hilfe des Rotary-Clubs in Gaziantep haben wir dann angefangen, eine Soforthilfe für die Dörfer zu organisieren. Lebensmittel, vor allem Wasser, Zelte und Container.“ Auch Mukkader Mese hat erlebt, dass die staatliche AFAD einen Lkw vollgeladen mit Zelten, die sie in Kayseri gekauft hatten, beschlagnahmt hat. „Sie verteilen die Zelte dann in ihrem Namen an ihre Leute, um zu zeigen, wie gut der Staat hilft.“
Nicht nur Mukkader Mese und Hacer Bülbül haben erlebt, dass der Staat von Präsident Erdoğan sehr selektiv hilft. Auch İskender Yıldırım, Bürgermeister der durch das Beben ebenfalls stark zerstörten Stadt Gölbaşı in der Region Adıyaman, musste feststellen, dass einige Städte besser bedient werden als andere. In Gölbaşı ist das Rathaus komplett zerstört worden, auch die örtliche Bank und die Post sind verschwunden. Sie haben deshalb auf dem örtlichen Marktplatz ein „Dienstleistungszentrum“ aus Containern aufgebaut. In einem arbeitet der Bürgermeister, in anderen haben die Post und die Bank provisorische Anlaufstellen eingerichtet. Mehr als zwei Drittel aller Häuser sind zerstört, doch die Aufräumarbeiten kommen nur langsam voran.
Im Container des Bürgermeisters drängen sich einige Architekten und Ingenieure, die mit İskender Yıldırım diskutieren, wie sie die Wasserversorgung im Zentrum wieder in Gang bekommen können. Mehrere befreundete Stadtverwaltungen aus anderen Teilen der Türkei haben Hilfe geschickt. Gölbaşı ist eine CHP-Stadt. Yıldırım gehört der Oppositionspartei an, die Stadt hat deshalb für die Regierung nur eine geringe Priorität. Verantwortlich für alle Notmaßnahmen ist der Gouverneur von Adıyaman, im von Erdoğan verhängten Ausnahmezustand hat er das Sagen. „Er bespricht sich aber nicht mit uns“, sagt Yıldırım. „Wir bekommen auch weniger Geld als die Orte, in denen die AKP regiert.“ Deshalb kommt aus anderen CHP-regierten Städten mehr Unterstützung. Sie bringen Baumaterial und das notwendige Gerät, um beispielsweise die Wasser- und Stromversorgung notdürftig zu reparieren.
Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die in gut vier Wochen stattfinden sollen, ist auch die Erdbebenhilfe politisiert worden. Die Regierung will vor allem in den Städten, die vor dem Beben zu ihren Hochburgen zählten, Boden wieder gutmachen, den sie durch ihr schlechtes Krisenmanagement verloren hatte. „Das gelingt auch teilweise“, beobachtet Mukkader Mese in einigen Dörfern und Kleinstädten, in denen sie von Gaziantep aus aktiv ist. „Die Leute sehen, dass die Regierung in ihren Orten jetzt viel Geld in die Hand nimmt.“
Auch Bürgermeister Yilderim ist unsicher, wie in seiner Stadt und Region abgestimmt werden wird. „Viele Leute sind weggegangen, viele sind getötet worden. Wie viele genau, wissen wir immer noch nicht. Wie diejenigen abstimmen werden, die hier im Ort geblieben sind, kann man nicht genau sagen, auch wenn ich glaube, dass die CHP hier gewinnen wird.“
In Hatay, der Provinz rund um das zerstörte Antakya, sind sie sich dagegen sicher, dass die Opposition stark zulegen wird. In İskenderun rechnet uns ein Vertreter der kurdisch-linken HDP vor, dass von den 11 Abgeordneten, die die Provinz ins Parlament schickt, die CHP mindestens 5 und die anderen Oppositionsparteien noch einmal 4 gewinnen werden. Doch in Hatay hatte die Opposition auch schon bei den letzten Wahlen die Mehrheit.
Entscheidend wird sein, wie Gaziantep abstimmt. Mukkader Mese ist sich bei ihrer Stadt ebenso unsicher wie der Bürgermeister von Gölbaşı für seine Region. „Gaziantep ist konservativ, aber vor 20 Jahren, bevor die AKP kam, war die Stadt lange Zeit eine Hochburg der CHP. Vielleicht kann die Opposition sich jetzt wieder durchsetzen.“
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