Berliner helfen Erdbebenopfern: „Der Hilfsstrom ist wie ein Sieb“

Kommen die Hilfsgüter aus Berlin im türkischen Erdbebengebiet zielgenau an? Die Grünen-Abgeordnete Tuba Bozkurt ist dieser Frage nachgegangen.

Helfer packen in Deutschland einen Lastwagen mit Hilfsgütern für die Erdbebenopfer in der Türkei

Helfer packen in Deutschland einen Lastwagen mit Hilfsgütern für die Erdbebenopfer in der Türkei Foto: dpa

taz: Frau Bozkurt, Sie waren sechs Tage im Erdbebengebiet in der Türkei und sind am vergangenen Mittwoch zurückgekommen. Was für ein Bild hat sich Ihnen am meisten eingeprägt?

Tuba Bozkurt: Das Bild einer großen Zerstörung, Verzweiflung und Perspektivlosigkeit. Asche und Staub, den man einatmet. Die eingefallenen Schultern der Menschen. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Sie waren in der schwer getroffenen Region Malataya. Wie groß sind die Zerstörungen dort?

Die Türkei ist in Provinzen aufgeteilt, Malataya ist eine der großen Provinzen, man spricht dann von Büyükşehir, also Großstadt. In der Stadt sind hauptsächlich zentrumsnahe Stadtteile betroffen. Die Untergebiete einer Büyükşehir sind Distrikte; von denen sind vor allem Akçadağ und Doğanşehir und ihre Dörfer betroffen. Viele Dörfer sind noch immer nicht gut erschlossen.

Tuba Bozkurt ist seit 2021 Mitglied der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie ist antidiskriminierungspolitische und industriepolitische Sprecherin. Zuvor hat die 39-Jährige als Unternehmensberaterin gearbeitet.

Was bedeutet das?

Sie sind nach dem Beben schlechter erreichbar. Die Hilfen kommen dort deutlich weniger an. Man muss sich den Hilfsstrom wie ein Sieb vorstellen. Er beginnt im Stadtzentrum, und bis er entlegene Dörfer erreicht, ist er längst erschöpft. Deshalb konnten im Zentrum mittlerweile wieder Geschäfte öffnen. In den Dörfern gibt es entweder keine Geschäfte oder sie können nicht mehr aufmachen, weil sie zerstört sind. Ich habe bewusst Dörfer aufgesucht und Hilfspakete übergeben, die wir dorthin transportiert haben. Wir waren in vier Dörfern.

Sind die Häuser noch bewohnbar?

Ich habe nur ein Haus gesehen, das noch bewohnt war. Es war das Haus des Dorfvorstehers, es war neu gebaut und kurz vor dem Erdbeben fertig geworden. Vielleicht auch mit stabileren Materialien, Dorfvorsteher sind finanziell möglicherweise etwas besser gestellt. Von den anderen Häusern stehen zwar einige noch, an der Fassade ist außer ein paar Abbruchstellen auch ist nicht viel zu erkennen, aber innen drin gibt es überall Risse und Bruchstellen. Auch das Hotel in dem ich übernachtet habe, hatte in der Decke einen Riss. Insgesamt haben im Gesamtgebiet Malatya nur noch zwei Hotels auf.

Das Erdbeben ist jetzt zwei Monate her. Was hat Sie zu der Reise bewogen?

Ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Wir haben sehr viele Hilfen von hier aus geleistet. In Berlin gibt es immer noch eine wahnsinnige Welle der Solidarität und Anteilnahme. Nach wie vor bringen LKWs Sachspenden von Berlin in die betroffenen Regionen. Aber wir wissen eigentlich nicht, ob das wirklich so zielgenau ankommt. Und ob das, was wir schicken, richtig ist und die Bedarfe deckt. Zudem wird das wird das Ganze auch wahnsinnig politisiert.

Von wem?

Von allen möglichen Menschen, die dort in der Region leben, oder Leuten von außerhalb, die einen Bezug zu der Region haben. Die einen sehen politische Defizite als Grund für die großen Zerstörungen, andere wehren sich dagegen. Die Region ist sehr vielfältig, es gibt unglaublich viele Minderheiten, auch unter den Betroffenen. Aus der Ferne ist ihre Situation kaum zu beurteilen. Ich wollte das selbst sehen und auch schauen, ob wir noch mehr machen können.

Was ist Ihr Fazit?

Die Sachspenden werden von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD entgegengenommen. Weil die aber nicht als Hilfsorganisation fungiert, verteilt sie die Sachspenden nicht, alles wird in ein Depot gebracht. Für die Verteilung braucht es vor Ort Vereine, die diese Aufgabe übernehmen, oder die Betroffenen müssen es dort selbst abholen. Daher ist es wichtig, die Aktionen, die wir aus Deutschland organisieren, mit Ak­teu­r:in­nen vor Ort zu koordinieren.

Das heißt, die vielen Spenden, auch aus Berlin, erreichen die Betroffenen nicht unbedingt?

Menschen, die in der Nähe dieser Depots untergekommen sind, profitieren sicherlich. Das ist ja nicht schlecht. Die Dörfer befinden sich in den Bergen, die Betroffenen dort müssten runter in die Stadt fahren um sich mit den Sachspenden eindecken zu können. Die Geldspenden kommen in den Dörfern besser an.

Woran mangelt es am meisten?

Wasser ist das allergrößte Problem. Das Wasser ist immer noch verunreinigt. Ich war ja auch in der Provinz Hatay und in weiteren Distrikten. Auch dort gibt es kein reines Wasser. Alle müssen abgefülltes Flaschenwasser trinken, das kostet auf Dauer viel Geld. Gerade für kranke Menschen ist die Situation sehr schwierig.

Inwiefern?

Ich habe einen Mann getroffen, der nierenkrank war und an der Dialyse hing. Er läuft Gefahr, sich eine Infektion einzuhandeln, wenn er verunreinigtes Wasser trinkt. Er hatte schon drei Infektionen seit dem Erdbeben. Dadurch, dass Ramadan ist, wird überall auf der Straße warmes Essen angeboten, von Privatpersonen oder Regierungsorganisationen. Jeden Tag gibt es verschiedene Suppenküchen. Aber Menschen, die krank sind, trauen sich nicht, das zu essen, weil sie sich nicht sicher sein können, dass wirklich sauberes Wasser verwendet wurde.

Was fehlt noch?

Bis vor Kurzem war es noch sehr kalt, da brauchte man Heizstrahler, Decken und Schlafsäcke. Tagsüber wird es allmählich ein bisschen wärmer, aber nachts könnte man ohne Heizkörper kaum überleben.

Was folgt jetzt aus Ihrer Reise?

Als ich unterwegs war, habe ich versucht, ein neues Depot zu organisieren. Wir wollen dort demnächst einen Lkw mit Sachgütern hinschicken. Meine Familie wohnt auch in der Region und gehört zu den Betroffenen. Die Solidarität untereinander ist wahnsinnig stark. Diejenigen, die ein bisschen mehr haben, sind sofort bereit, die anderen zu unterstützen. So haben sich mein Onkel und Cousins meines Vaters bereit erklärt, die ankommenden Spenden zu verteilen. Mein Vater ist auch gerade aus Deutschland in die Region gefahren.

Sie haben zwölf Angehörige verloren, ist das richtig?

Genau. Eigentlich sind alle meine Verwandten betroffen.

In der Türkei ist gerade Präsidentschaftswahlkampf, am 14. Mai wird gewählt. Macht sich das im Erdbebengebiet bemerkbar?

Ganz eindeutig. Überall gibt es Wahl-Werbetafeln. Die Parteien sind bei den Hilfeleistungen vor Ort präsenter, auch Regierungsvertreter zeigen sich.

Wie kommt das bei den Betroffenen an?

Durchwachsen. Ich bin ja oft in der Region. Mein Eindruck ist: Das Erdbeben hat nicht dazu geführt, dass das eine Lager mehr Zuspruch hat als das andere.

Das Erdoğan-Lager und die Opposition?

Ja. Mein Eindruck ist, dass sich die Fronten weiter verhärtet haben, die Polarisierung noch stärker geworden ist. Erdoğan-Anhänger sagen, die Regierung könne nichts für das Erdbeben. Die anderen sagen, die Regierung habe versagt. Was das Ausmaß der Zerstörungen angeht, ist die Regierung tatsächlich überfordert.

Innerhalb der deutschen Bevölkerung ist das Erdbeben kaum noch präsent oder täuscht das?

Bei der deutschsprachigen Gesellschaft scheint das so zu sein, aber in der türkischen Community ist es sehr, sehr präsent, immer noch.

Wie drückt sich das aus?

Es gibt weiterhin sehr viele Spenden, Lkws fahren nach wie vor von hier aus in die Regionen. Ich hatte eben vom Ramadan gesprochen. Im Ramadan gibt es die Verpflichtung, eine Art Spende, Fitre genannt, zu machen. Das ist eine Armenabgabe. Das machen viele türkischstämmige Berliner. Ich war mit zwei Freundinnen vor Ort. Wir hatten von unseren Familien und Freunden Fitre mitbekommen, die haben wir an Erdbebenopfer verteilt.

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