Wieder Parlamentswahlen in Israel: Neues Referendum über Netanjahu
Zum vierten Mal in zwei Jahren wählen die Israelis ihr Parlament. Sie entscheiden damit über den wegen Korruption angeklagten Benjamin Netanjahu.
Netanjahu, dessen Umfrageergebnisse im Herbst auf dem Höhepunkt der Covid-19-Krise am Boden lagen, ist noch einmal auferstanden und hat mit seinem Likud vor der Parlamentswahl am Dienstag einen erstaunlichen Endspurt hingelegt. Zwei Sitze konnte er laut letzter Umfragen allein in der vergangenen Woche hinzugewinnen.
Und obwohl 51 Prozent der Befragten nicht wollen, dass der wegen Korruption vor Gericht stehende Regierungschef im Amt bleibt, ist er immer noch weit beliebter als jeder andere Kandidat.
In der Impfkampagne geriert sich Netanjahu als Retter der Nation, als sei die vorläufige Bewältigung von Covid-19 sein eigenes Verdienst. Seine Strategie scheint aufzugehen.
Anfängliches Versagen in der Pandemie scheint vergessen
Die chaotische Regierungspolitik in der Pandemie, etwa die offensichtliche Bevorteilung der Ultraorthodoxen gegenüber Säkularen, das Missmanagement der Krise, das zahlreiche Unternehmer:innen und Angestellte in Arbeitslosigkeit und Verzweiflung getrieben hat – all das scheint vergessen.
Rechtzeitig zu den Wahlen ist das Land in einen nahezu vorpandemischen Zustand zurückgekehrt. Verprellte Wähler:innen kehren zu Netanjahu zurück.
Dabei kämpft er zum ersten Mal mit Gegenwind aus den eigenen rechten Reihen: Gideon Sa’ar, einst Zögling des Regierungschefs, stellt sich seit der Gründung seiner Partei Neue Hoffnung als Alternative zur korrupten Politik Netanjahus dar.
Doch galt Sa’ar mit seinen anfänglich prognostizierten 20 Sitzen als der Herausforderer Netanjahus überhaupt, ist seine Partei in den Umfragen zuletzt auf unter 10 Sitze zusammengeschrumpft.
Als sichere Bündnispartner Netanjahus gelten die ultraorthodoxen Parteien Schas und United Torah Judaism; ebenso das ultrarechte, nationalistische Bündnis Religiöser Zionismus, sofern dieses den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde schafft.
Für Netanjahu geht es vor allem um Immunität
Doch Naftali Bennett mit seiner rechten Partei Yamina, der sich alle Optionen offenhält und schon zahlreiche politische Erniedrigungen von Netanjahu hat hinnehmen müssen, würde wohl im Fall einer möglichen Mehrheit und großzügigen Zugeständnissen vonseiten des Regierungschefs in die Regierungskoalition einsteigen.
Eine der ersten Amtshandlungen einer solchen Regierung dürfte sein, dem Ministerpräsidenten Immunität zu verschaffen. Die letzten Umfragen geben diesem Bündnis exakt die für eine Mehrheit erforderlichen 61 Sitze.
Doch hängt der Wahlausgang jetzt in besonderem Maß an wenigen Stimmen und an der Frage, ob den kleinen Parteien der Einzug ins Parlament gelingt.
Netanjahu hat mehrere Optionen
Sollte der linken Partei Meretz und Benny Gantz’ Partei Blau-Weiß, die seit dem Eintritt in Netanjahus Regierungskoalition im letzten Jahr an Glaubwürdigkeit verloren hat und nun auf ihrem absoluten Umfragetief angekommen ist, die Rückkehr ins Parlament gelingen, könnte eine eigene Mehrheit für Netanjahus ultrarechts-religiöses Bündnis vielleicht noch abgewendet werden.
Der Zauberer, wie Netanjahu in Israel mitunter genannt wird, hätte allerdings noch ein Ass im Ärmel: Ungeachtet seiner jahrelangen öffentlichen Hetze gegen die Araber:innen Israels ist der Regierungschef in einer Kehrtwende unter arabischen Israelis auf Stimmenfang gegangen und hat ebenso Mansour Abbas umworben, den Vorsitzenden der konservativ-islamischen Partei Ra’am.
Sollte dieser Partei der Einzug gelingen, könnten ihre Sitze das Zünglein an der Waage werden. Die Bildung einer zeitlich begrenzten Notstandsregierung zur Bewältigung der Folgen der Pandemie könnte den denkwürdigen Zusammenschluss aus ultrarechten zionistischen und konservativ-islamischen Politiker:innen rechtfertigen.
Anti-Netanjahu-Bündnis von rechts bis links
Sollte Netanjahu an diesem Dienstag die nötigen Stimmen dafür verfehlen, wäre die dritte Option ein pragmatisches Anti-Netanjahu-Bündnis quer durch die politischen Lager: mit Bennetts Yamina und Sa’ars Neuer Hoffnung von rechts, Yair Lapids Yesh Atid und Gantz’ Blau-Weiß in der Mitte und Meretz, der Arbeitspartei und einer Beteiligung der Vereinigten Liste auf linker Seite.
Kommt es zu keiner Einigung? Dann gibt es wieder Neuwahlen. Es wären die fünften innerhalb von zweieinhalb Jahren. Im Februar hatte dies laut einer Umfrage des Israelischen Demokratieinstituts noch als wahrscheinlichste Lösung gegolten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker