Wie sich die Deutschen sehen: Naiv-gut und ungeschickt
Grob und linkisch, aber immer geradeaus und ehrlich: Literaturwissenschaftler Ulrich Breuer hat ein Buch über deutsche Ungeschicklichkeit geschrieben.
Wer seine Stärken öffentlich ausspielt und seine Schwächen zu verbergen vermag, der gilt als geschickt. Umgekehrt geht es allerdings auch: Sich nämlich als ungeschickt zu präsentieren, um so den eigenen Absichten den Anschein des Naiv-Guten zu verleihen; und am besten ist es natürlich, beide Strategien gleichzeitig anzuwenden. Meisterlich verfuhr so kürzlich Wolfgang Thierse in der x-ten Debatte um eine durch „linke Identitätspolitik“ verursachte angebliche Spaltung der Gesellschaft.
Mit keinem Wort erwähnte Thierse in seinen Ausführungen – und auch niemand anders –, dass mehr als jedes Gendersternchen er selbst in damals führender Postion in Staat und SPD mitverantwortlich für das radikalste politische Spaltungsprojekt der jüngeren deutschen Geschichte ist – die sogenannten Hartz-IV-Reformen; und dass es ja vielleicht wirklich von ihm beklagte „falsche kulturelle Frontbildungen“ sein mögen, die heute die allerletzte Supermarktkassierer:in der Sozialdemokratie entfremden, dass es aber unbestritten der bewusste Hartz-Affront gegen die Facharbeitschaft war, der die SPD zur Splitterpartei gemacht hat.
Dass Wolfgang Thierse mit seiner unschuldig-abgefeimten, katholisch-ratzingerhaften Diskursstrategie so glatt durchkam, könnte aber eben auch an seiner in den 1990er Jahren von Titanic klassisch etablierten Rolle als ungeschickter „Ossi-Bär“ liegen. Nach eigener Aussage „nicht das Übelste“, was einem Politiker passieren könne – zeige die Typisierung doch, dass man bekannt sei.
Dass dem Ossi als spätestem Verwandten des Deutschen Michel Böses eben immer nur passiv widerfährt, er von fremden Mächten fortgesetzt betrogen und belogen wird und er dann eben auch einfach nicht anders kann, denn als wilder Zottelbär durch diese verkünstelte Welt der ihm aufgezwungen Cancel-Zivilisation zu stapfen – all das sind Motive, die man aus Ulrich Breuers in jedem Sinn großer historischer Studie „Ungeschickt: Eine Fallgeschichte der deutschen Literatur“ in den Gegenwartsdiskurs mitnehmen kann; und das selbstverständlich auf eigene Verantwortung und nicht auf die Breuers, auch wenn der den Bären seiner Studie sogar als Motto voranstellt: „Ich sah in die Vergangenheit bis in den mit Bären bevölkerten Deutschen Urwald hinein“ (Friedrich Hebbel).
Legitimationsinstanz der Natur
Und durchaus bärig macht der Autor auch die vielleicht wichtigste Umwertungen in der Geschichte der deutschen Ungeschicklichkeit in der Frühaufklärung fest. Sie geht einher mit einer „zunehmend entschiedenen Ablehnung der höfischen Kultur und ihrer von Frankreich bestimmten Formkonventionen“, heißt es im Kapitel „Tanzbären“. Es ist die „Legitimationsinstanz der Natur“, die zu Gunsten des „Teutschen ungeschicks“ angerufen wird, während die unglücklichen Tanzbären durch Übung gezwungen werden, gegen ihre Natur zu handeln.
Als ein Beispiel unter vielen anderen Bärenfabeln der Zeit analysiert Breuer ausführlich Goethes Gedicht „Lillis Park“ (1775), in dem ein verliebter Bär in die Rokoko-Menagerie der Geliebten eindringt, dort putzig zugerichtet werden soll, dann aber lieber trotzig regrediert – oder es jedenfalls versucht –, um sich nicht mit sozialen Konventionen arrangieren zu müssen, um ein „echter Bär“, um „unabhängig“ und „ein Mann“ zu bleiben. Männliche Ungeschicklichkeit und die daraus folgende Regression und Misogynie gehen hier eine für die deutsche Geschichte folgenreiche Beziehung ein, noch Botho Strauß inszeniert sich laut Breuer als „deutscher Idiot“.
Was der Mainzer Literaturwissenschaftler vorlegt, ist eine Geschichte der Ungeschicklichkeit in der deutschen Literatur. Vom ausgehenden Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit verfolgt er die Wandlung des Begriffs in Wörterbüchern und Kunsttexten. „Ungeschicklichkeit ist speziell den Deutschen zugeschrieben worden. Sie gehört zur Konstruktion und Figuration eines deutschen Nationalcharakters“ seit Tacitus’ antiker Ethnologie „Germania“ und ihrer Wiederentdeckung und Vereinnahmung durch deutsche Humanisten. Warum genau diese Zuschreibung angenommen wird und sich bis zur Nationalfigur des ungeschlachten „Deutschen Michel“ steigert, bleibt dabei letztlich auch von Breuer unbestimmt.
Mit Luther taucht aber jedenfalls zu Beginn der Neuzeit ein deutscher Mensch auf, der sich selbst prahlend als „Barbar unter Barbaren“ bezeichnet und zu einem Zeitpunkt beginnt, fundamentalistische Ideen zu entwickeln, zu dem Michelangelo in Rom die Sixtinische Kapelle ausmalt. Luther etabliert das deutsche Schema, man dürfe ruhig andere mit seinen Ausführungen zu Tode langweilen, wenn man nur überzeugt sei, recht zu haben, in seinem ungeschickten Latein: „sermone sum imperitus, rerum tamen non sum imperitus.“
Gegen die Zumutungen des Neuen
Innen hui, außen pfui, wandelt Breuer den „umgangssprachlichen Phraseologismus“ ab – und hier empfiehlt sich der zwischengeschobene Hinweis, dass wer Angst vor Begriffen (und ihrem Nachschlagen) wie „Affordanz“ und „Bifurkation“ hat, mit Breuers Buch nicht so viel Spaß haben wird, wie es möglich ist.
Die ernsteste Komponente in Breuers Buch ist die, wo der deutsche Ungeschicklichkeitsdiskurs im Abwehrkampf gegen die Moderne eingespannt wird. Die christlichen Mehrheitsdeutschen des 19. Jahrhunderts sehen sich durch die raschen Innovationsschübe und die nötigen Anpassungsleistungen überfordert und konstruieren sich historistisch eine so glorreiche wie barbarische Germanen-Vergangenheit, um den Zumutungen der Neuerungen und Freiheiten des aufziehenden Liberalismus etwas entgegensetzen zu können; da ein solch kapitulierender Rückzug vor der Realität einen immer nur unglücklich machen kann, braucht es einen Feind, die Juden.
Ulrich Breuer: „Ungeschickt. Eine Fallgeschichte der deutschen Literatur“. Wilhelm Fink Verlag, 2020, 769 Seiten, 69 Euro.
Die nämlich zeigen sich laut Breuer erfreut von und geschickt im Umgang mit den neuen Freiheiten nach Jahrhunderten der gnadenlosen Verfolgung und Unterdrückung: „Zugunsten ihrer reichhaltigen Vergangenheit dürfen die deutschen Christen die Gegenwart vernachlässigen und sie neidisch und zunehmend auch hasserfüllt den deutschen Juden überlassen.“ Was sich in der Literatur des 19. Jahrhundert noch in mehr oder weniger liebenswürdigen Außenseitern und Tollpatschen manifestiert, führt in der Realität des 20. Jahrhunderts zum Zivilisationsbruch von Holocaust und Vernichtungskrieg.
Springen wir überleitungslos ins Heute. Wer ungeschickt handelt, verstößt gegen soziale Regeln; womit sich für unsere jüngste Vergangenheit und Gegenwart – die „Digitalisierungsmoderne“ – die Frage ergibt: Wie lässt sich, angesichts des seit den 1960er Jahren anhaltenden Abbaus von Vorschriften zum formellen Verhalten – also, dass einen sogar schon ein Möbelhaus duzt – überhaupt noch ein gesellschaftlicher Fauxpas begehen?
Nehmen die Boomer die Herausforderung an?
Der Streit um „Gendersprache“ ist eben auch ein schambesetzter, in dem die einen über ein neues Vokabular verfügen und es regelhaft verbindlich machen wollen, während die anderen, noch dazu biografisch durch den jahrzehntelangen Informalisierungstrend geprägt („Ok Boomer“), sich auf dem neuen Terrain gar nicht anders als erst mal ungeschickt verhalten können und auch wollen; und die Frage, die sie sich stellen müssen, ist, ob sie ihre eigene Ungeschicklichkeit in einer deutsch-romantischen Tradition affirmativ aufwerten wollen (und damit immer ein wenig wie Friedrich Merz aussehen) oder die Herausforderung annehmen können.
Möglich ist, dass in den nächsten Jahren ein Einigungsprozess ablaufen wird, politisch symbolisiert und vorangebracht von Schwarz-Grün, der eine neue demokratische Normalsprache hervorbringt, die dann irgendwann alle undiskriminiert, unbeschämt und geschickt benutzen können.
Eine Anmerkung zum Schluss. Für diese Rezension legitimiert bin ich nicht durch ein, wenn auch mit Bestnote abgeschlossenes Germanistikstudium, denn die bekamen in nicht nur schlechten vergangenen Zeiten am Ende eines 20-semestrigen Magisterstudiums alle, die sich nicht vollkommen ungeschickt anstellten. Nein, als ich dieses Buch in die Hand bekam, fiel mir der verträumte Grundschüler ein, der mit Turnbeutel in der einen und der von der Mutter zur Entsorgung übergebenen Mülltüte in der anderen Hand frühmorgens die Wohnung verlässt und dann beim Turnunterricht aus der Mülltüte seine Turnschuhe ziehen will – und beschämt ist. Wie tröstend ist es da, dass Breuer Adalbert Stifters Schilderung der Ungeschicklichkeiten eines kleinen Theodors anführt, der „sich zum Spazierengehen seine Kappe ausbürstete, und dann die Kappe niederlegte und mit der Bürste fort ging“.
Das Ungeschick zu überwinden, muss nicht heißen, es aus dem menschlichen Möglichkeitsraum auszuschließen. Wer stolpert, steht eben auch „mit dem einen Bein in der Zukunft“: Das Stolpern ist blöd, aber es ist auch die ungeschickt wandelnde Hoffnung, dass nicht immer nur die ans Ziel kommen, die den geraden Weg gehen.
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