■ Der am 3. November auf dem Flughafen Teheran verschwundene iranische Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist Faradsch Sarkuhi zum zehnten Jubiläum seiner Zeitschrift "Adineh": Wie nackt auf der Anklagebank
Nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart wird jeder aus seiner Sicht erzählen. Die Geschichte der Kulturzeitschrift Adineh bildet da keine Ausnahme.
Es sind nun zehn Jahre, seitdem ich die Verantwortung der Chefredaktion trage. Wegen der damit verbundenen Verantwortung und der positiven und negativen Kritik der anderen – von nah oder fern, richtig oder falsch – hörte und las ich vieles und zog negative und positive Meinungen anderer in Betracht. Damit ich nicht durch meinen Blick von innen heraus, sondern durch den Blick anderer die Arbeit bewerte.
Bei der redaktionellen Pflichtarbeit fühle ich mich häufig – besonders wenn es um die Auswahl und Korrektur von Texten geht – als Mensch, der bei jeder Zeitschriftenveröffentlichung nackt und schutzlos auf der Anklagebank sitzt – jeder könnte durch Forderungen und Erwartungen und durch seinen Blickwinkel den Redakteur und seine Arbeitsbilanz verurteilen, jedoch ohne die Schwierigkeiten und Hindernisse zu kennen, unter denen das Ergebnis der Arbeit zustande gekommen ist.
Mit Recht machen sich die anderen keine Sorge um die Situation des Redakteurs. Denn sie betrachten das Ergebnis. Ab und an wird es schwer, sich Urteile von Menschen anzueignen, die nichts von den Schwierigkeiten wissen. Sie glauben die gelbe Farbe des Gesichtes als eine Folge deiner Depression oder der Geschmacklosigkeit zu erkennen und nicht des Hungers, der an deiner Seele nagt. Die rote Farbe der Wangen deuten sie als Intoleranz oder Aggression und nicht als Reaktion auf den in dich hineingefressenen Druck, der von allen Seiten ausgeübt wird. Sie bewerten deinen manches Mal schmerzhaften Blick als Preisgabe und nicht als Ausdruck von Verletzung und Unglück, deine wohlgesinnte Ausdauer als Machenschaft und nicht als einen wohlüberlegten Ausweg in die Dauerhaftigkeit.
In Wahrheit bewegt sich die Wahl der Menschen jedoch stets zwischen „Utopien“ und „Möglichkeiten“. Diese Wahl ist immer von der Möglichkeit des Irrtums begleitet. Die Menschen handeln – verliebt in ihre Utopien und abhängig von den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Sie verwirklichen ihre Identität durch die Wahl dieser oder jener Möglichkeit in jeder Lage und mit jedem Schritt.
So ergab sich 1985 für die Gruppe Adineh die Möglichkeit, kulturelle Arbeit in Form der Herausgabe einer Zeitschrift leisten. Diese neue Möglichkeit entstand, weil Gholamhossein Zakeri die Lizenz zu Veröffentlichung einer Zeitschrift bekommen hatte. Dies war eine Folge der veränderten sozialen und politischen Lage im Land: Aus verschiedenen zeitspezifischen Gründen und Motivationen wurde damals eine beschränkte Vielfalt der Einfalt vorgezogen. Die erste Ausgabe von Adineh bedeutete somit ein neues Kapitel, nicht nur für die Geschichte der Zeitschrift, sondern für eine neue Zeit.
1985 liegt jetzt ein Jahrzehnt zurück. Das Jahr hatte das Fieber und den Schmerz der Nachrevolutionsjahre hinter sich gebracht. Wir waren mitten in einem Krieg (der erste Golfkrieg gegen den Irak, Anm. d. Red), der seine unvermeidlichen Folgen mit sich brachte.
Gerade in den Jahren 1982 bis 1985 entstand bei einem Teil der Intellektuellen der Drang nach kultureller Arbeit. Verdrossenheit exisitierte so gut wie nicht. Jedoch bestätigten die Stagnation der zurückliegenden politischen Aktivitäten und das Scheitern und Chaos in den alten Denkformen die Notwendigkeit einer fundierten Kritik daran. Es ging in den Diskussionen nicht um die Enthaltsamkeit von Politik, sondern um die Art der politischen Begegnung. Diese bedurfte einer gründlichen Überprüfung.
Außerdem hatten wir in den Revolutionsjahren – und auch schon davor – erfahren, daß in jeder Wende Kultur und kulturelle Arbeit Hauptelemente zur Schaffung eines dauerhaften Fundaments sind. Wirtschaftliche und sozialpolitische Pläne können nicht ohne kulturelle Vorbereitung verwirklicht werden. Jene Zeit war die Zeit der Kritik und der kulturellen Arbeit.
Politik als Profession war weder unsere Arbeit noch unser Interesse. Jedoch ist in Gesellschaften wie der unseren die Ausklammerung von politischen Problemen unmöglich. Das Hauptmerkmal jener und dieser Zeit und im Verlauf des zehnjährigen Bestehens von Adineh war daher, die kulturelle und professionelle Konfrontation mit politischen Problemen. Wir nahmen und nehmen jedoch immer noch Rücksicht darauf, daß unsere Methode die kulturelle Arbeit ist.
Das Jahr 1985 war für die unabhängige – besonders die sozialwissenschaftliche und kulturelle – Presse auch ein Jahr des Nichtwissens, wie hoch die Decke hängt und was toleriert wird. Alte Maßstäbe waren nicht mehr brauchbar und neue zu finden war unmöglich – es sei denn durch Ausprobieren, was die Gefahr von Entgleisungen einschloß. Gefragt waren Verantwortungsbewußtsein und professionelle Spezialisierung und die Liebe zu den Utopien.
Das Jahr 1985 war auch das Jahr des Zweifels. Schon das Erwähnen eines Namens konnte das Weiterbestehen einer Zeitschrift unmöglich machen. Viele der Artikel in den ersten Ausgaben von Adineherschienen deshalb anonym.
In jenen Jahren war es am schwierigsten, das Vertrauen der Leser und der Käufer an den Zeitungskiosken zurückzugewinnen. Ohne die selbstlose Mitarbeit einiger angesehener und anerkannter Intellektueller wäre dies nicht gelungen.
Das Ziel war, dem täglich wachsenden Bedürfnis nach Bewußtsein Antworten zu geben. Bewußtsein ist ein Mittel zur Freiheit. Niemand konnte sich damals Adineh so vorstellen, wie sie heute ist, niemand glaubte an ihre Ausdauer. Die Zeitschrift ist beim „Werden“ zu Adineh geworden.
Die Gesellschaft gab unverzüglich ihre Bestätigung. Gelegentlich muß die Berechtigung einer Bewegung in dem Bedürfnis nach jener Bewegung gesucht werden. Die Anerkennung der Leser und der unabhängigen Intellektuellen war bereits bei den ersten zehn Ausgaben so groß, daß ab der elften Ausgabe die Gestaltung der Zeitschrift verbessert und der Umfang vergrößert wurden.
Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Neben Anerkennung, Angeboten zur Mitarbeit und Unterstützung gab es auch negative Erfahrungen – sie kamen aus zwei unterschiedlichen Ecken: Eine Gruppe empörte sich, verdächtigte und verurteilte Adineh und die anderen, ihr nachfolgenden unabhängigen Zeitschriften. Angehörige dieser Gruppe spielten die Rolle des Richters. Jede Zeitschrift, die nicht ihre Lieblingsfarbe trug, wurde mit dem Kainsmal geprägt. Sie ertrugen keine Vielfalt des Denkens.
Die zweite negative Begegnung gab es mit jenen, die an keine Bewegung glaubten. Die Existenz einer unabhängigen Zeitschrift sowie ihr inhaltliches Profil waren nicht mit ihren Analysen und Vorurteilen in Übereinstimmung zu bringen. Sie dachten, es müßten Machenschaften und Täuschung am Werk sein. Bei der Gegenüberstellung der Realität mit ihren subjektiven Einschätzungen zogen sie ihre eigene Subjektivität vor. Unfähig zur Analyse der konkreten Strukturen, waren sie nicht in der Lage, die neuen Mechanismen zu erkennen. Sie machten es sich einfach: Um ihre Interpretationen zu bewahren, meinten sie zu wissen, daß die Impulse der neuen Zeit einer Verschwörung entspringen.
Wir sind nun fern von jenen Jahren und solche Urteile sind sogar bei den eigenen Richtern verblaßt. Aber ihre Schwere lastet noch auf unseren Schultern und Gedanken.
Vertrauen, Anerkennung und Auflage zu gewinnen, sich angemessen durchzusetzen, und sich vor dem tödlichen Speer derjenigen, die an nichts als Beseitigung denken, in acht zu nehmen, dies waren unter anderem die Schwierigkeiten der Arbeit. Diese wäre ohne Konsequenz bei der Arbeit, ständige Erhöhung der Qualität, ununterbrochene Korrektur der Fehlleistungen, ohne sich in unterschiedlichen Bereichen in Gefahr zu begeben, ohne professionelle Haltung und freiheitliches Denken, ohne Toleranz und Rücksicht weder nach außen noch intern möglich gewesen.
Seit der elften Ausgabe erscheint Adineh in ihrer heutigen Form. Immer mehr Schriftsteller und Mitarbeiter schlossen sich Adineh an. Es folgten andere Zeitschriften mit ähnlichem Profil. Wir versuchten, einen Gleichklang in der Zeitschrift zu vermeiden. Adineh sollte ein offenes Forum für alle Meinungen sein. Erst durch das Zusammenkommen von Gegensätzen entstehen Entfaltung und Vollkommenheit.
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