Wie man sich das Netz 2020 vorstellte: Wir lesen noch
Die Trends der Netznutzung korrekt vorherzusagen, grenzt an Glück. Einige Prognosen aber sind im vergangenen Jahrzehnt recht gut gealtert.
G leich nach der Geburt wird jedem Neugeborenen ein Chip eingepflanzt, der Gesundheitsdaten misst. Herzrhythmus, Blutzucker, Stress, alles in Echtzeit abrufbar. Nie wieder müssen Eltern rätseln, was das Kind will, wenn es schreit. Ein Blick aufs Display genügt.
Dass die Prophezeiung von Michael Dahan, Politikprofessor am Sapir College in Israel, nicht wahr wurde, ist gut. Bis 2020 würde allen in Industriestaaten geborenen Kindern ein Chip implantiert werden, mutmaßte er in einer 2006 veröffentlichten Umfrage zur Zukunft des Internets, durchgeführt von dem US-amerikanischen Pew Research Center. Und diese Chips würden wichtige medizinische Daten generieren, aber auch Überwachung möglich machen.
Insgesamt fünfmal, 2004, 2006, 2008, 2010 und 2012, fragte Pew ab, wie sich Expertinnen und Experten das Internet und dessen Rolle für die Gesellschaft im Jahr 2020 vorstellten. Und jetzt? Längst nicht alles, was man erhoffte oder befürchtete, wurde wahr. Dass das Internet die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischt, hatte man bereits 2004 erkannt: Man werde sich zu „mehr Integration zwischen den beiden Welten zurückbewegen“, vermutete eine Expertin – und das sei eine gute Sache. Das Web könne es für Mütter einfacher machen, nebenbei zu arbeiten, hoffte Tiffany Shlain, Gründerin der Webby Awards. Dass eine erhöhte Flexibilität aber auch zu mehr Stress führt – eine Erkenntnis, die mittlerweile Selbsthilfebücher, Spas und Ted Talks füllt –, fand sich vier Jahre später im Bericht.
Ähnlich uneins war man sich bei der Frage, ob das Internet zu mehr Toleranz führt. 2004 konnte sich lediglich ein Drittel der Befragten vorstellen, dass Menschen das Web nutzten, um eigene Ansichten zu bestätigen und gegenteilige Meinungen rauszufiltern. Es werde 2020 zwei Gruppen von Menschen geben, prophezeite der Tech-Berater Jerry Michalsky vor einem Jahrzehnt: die „Cocooner“, die sich in ihren Kokon zurückziehen, und die „Connecter“, die sich über Grenzen hinweg verbinden. Zweitere würden die Überhand gewinnen, hoffte er. Tja.
In den 2000ern sorgte man sich um die Zukunft der Kunst. „Napster, Kazaa und iPod killen das „Album“-Format“, wurde 2004 prophezeit. Das stimmt; ein Trost allerdings: Auch Napster, Kazaa und – wohl bald – der iPod ruhen heute im Technologiejenseits. Flatrate-Angebote haben hingegen ein gewisses Verständnis für Urheberrechte geschaffen. Man scheint vielerorts bereit, 10 Euro pro Monat zu zahlen, um mit gutem Gewissen Inhalte zu streamen – oder alternativ Werbeeinschaltungen über sich ergehen zu lassen.
Falls Sie diesen Text bis hierher selbst gelesen haben, ist die Prophezeiung von Stephen F. Steele, US-Professor für Zukunftsstudien, aus dem Jahr 2010 übrigens nicht eingetroffen: Wir befänden uns 2020 im Zeitalter der „Post-Alphabetisierung“, würden nicht mehr lesen, sondern lediglich Sprachausgabe-Technologien benutzen. Vielleicht im Dezember dann.
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