Wie man aus Altem Neues lernt: Livius und die Linkspartei
Wer altert, muss auch mit dem Schwinden der eigenen Kapazitäten zurechtkommen. Bei der Bewältigung der Gegenwart können manchmal Klassiker helfen.

L angsam läuft sie aus, diese kleine Kolumne übers Haushalten. Sind Schmutzecken zurückgeblieben, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, dunkle Gegenden, in die vorzudringen ich nicht wagte?
Gewiss – und wer weiß, welche ich in den verbleibenden Texten noch den Mut haben werde auszuleuchten. Da Schmutz sich ständig reproduziert, hat diese Aufgabe eh kein Ende. Und doch steht die eigene Endlichkeit mit 56 Jahren oft so unübersehbar vor mir, dass ich mich wundere, wie ich sie all die Zeit zuvor habe ignorieren können.
Wenn ich mich vorerst in eine Liste der Dahingeschiedenen rette, dann sehe ich da meine Omas – die Opas hatten sich vor meiner Zeit verabschiedet – und Tanten, mein Vater, mein Sandkasten- und mein Schulfreund. Ihre Unwiederbringlichkeit steht in letzter Zeit oft krass vor mir; und führt mich dann doch wieder nur auf das eigene Verschwinden zurück.
Und dabei ist es weniger das eigene Schwächerwerden – das intellektuell, seelisch und körperlich nicht zu leugnen ist – als vielmehr die unverminderte, mir oft manisch erscheinende Energie der Altergenossen, die meine Lebenslust mindert. Dabei ist meine Erfahrung, dass Entspannung eher zum Ziel führt als Anstrengung. Was mir leichtfiel, bekam jedenfalls in der öffentlichen Sphäre immer mehr Anerkennung als das, was ich mir mühsam abverlangte.
Besser nicht Skifahren lernen
Auch das ist zum Teil eine Altersfrage: So rate ich in letzter Zeit regelmäßig Bekannten aus dem Flachland ab, sich noch auf das Erlernen des alpinen Skifahrens einzulassen, und werde selber auf kein Pferd mehr steigen – denn bei dem, was Hänschen spielerisch gelernt hat, tut Hans sich oft sehr, sehr weh.
Ist es uns Älteren also überhaupt verwehrt, Neues zu lernen? In einer der Bücherkisten, die regelmäßig vor den Häusern der besseren Wohngegenden stehen, fand ich kürzlich ein zweisprachiges Reclam-Bändchen: Livius, „Römische Geschichte, 4. Buch“.
In diesem Teil geht es im Wesentlichen darum, dass die unteren Schichten Forderungen nach einem größeren materiellen und mitbestimmenden Anteil am Gemeinwesen formulieren, die von den Oberen regelmäßig umgebogen werden, indem sie zum Krieg rüsten, der Aussicht auf Beute verspricht. Die Unteren zieren sich erst, machen dann aber doch mit und wählen am Ende wieder die Vertreter der Oberen in die höchsten Staatsämter.
Zu lernen ist hier, was man schon weiß, aber immer wieder vergisst: Es gibt im Staat keine Umverteilung des Bestehenden, sondern nur Aufteilung des neu Erworbenen – ob man nun den Nachbar überfällt oder mittels Wirtschaftswachstum die Natur ausbeutet.
Geschwätzige Umverteilungsrhetorik
Diese Regel ist nur ausgesetzt, wenn es zu schwerst gewalttätigen Umwälzungen durch Kriege, Pandemien, Revolutionen oder Umweltkatastrophen kommt. Der Historiker Walter Scheidel hat dazu ein dickes, deprimierendes Buch geschrieben („The Great Leveler: Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century“).
In Wirklichkeit, lerne ich, geht es bei mir nicht mehr darum, dazuzulernen, wo Meisterschaft eh nicht mehr zu erringen ist; es geht darum, das Gelernte nicht zu verlieren und auf neue Situationen anzuwenden – in dem Fall etwa auf eine linke Umverteilungsrhetorik, die bei einer nicht extrem krisenhaften Entwicklung bloßes Geschwätz bleiben muss, was die Wähler:innen natürlich früher oder später kapieren und sich abwenden – Grüße an die Linkspartei zur nächsten Wahl 2029.
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