Nachruf auf einen wilden Freund: Wer die Kurve kriegt

Seine Autos und Motorräder waren schnell, seine Unfälle spektakulär. Doch M. bekam die Kurve und baute sich was auf. Nun ist mein wilder Freund gestorben.

Ein Motocrossfahrer mit einer Enduro hebt ab

Wer die Kurve kriegt, ist noch lange nicht auf der sicheren Seite Foto: Nicola Colombo/Zoonar/imago

Sich zu entziehen wissen – das war unsere Parole gewesen als halbwüchsige Hilfsverpflichtete im elterlichen Haushalt. Dass es schlimmer kommen konnte, als die Arbeit kennen und sich nicht zu drücken, wurde uns klar, als M.s Eltern ihn sitzen ließen: Er hatte jetzt jeden Tag sturmfrei, was folgte, waren „Star Wars“-Nächte ohne Ende, mit VHS und Mirácoli.

Im Suff hatte irgendwer, ich hoffe nicht ich, die Idee, die übrigen Spaghetti im Klo zu entsorgen. Da zogen sie dann durch, bis sie wer rausholte, möglicherweise ich. M. musste bald raus aus der buchstäblichen Scheiße, in der die Wohnung versank, all das war eine Riesentragödie, aber wir waren 18 und tranken besinnungslos Bierkästen aus, ein Teil von M.s Sachen kam ins Umzugsauto, ein Teil in den Müll, darunter alle seine wichtigen Dokumente, das war ziemlich sicher ich. Er verfluchte mich, wir kamen wieder zusammen, waren aber schon auf getrennte Gleise gesetzt.

Der Sommer 74 ist mit milchiger Patina überzogen, es war der letzte Sommer vor der Schule, als ich begann, allein draußen zu spielen, als ich M. kennenlernte, auf dem Spielplatz vom Nachbarblock. Er war klein, zart und hatte Schneckerlhaare, er war frech und mutig, auf dem Nachhauseweg von der Grundschule, in die wir ab September gingen, prügelten wir uns jeden Tag, um uns nach Mittagessen und Hausaufgaben selbstverständlich wieder abzuholen.

Daheim bei ihm roch es nach Zigaretten und Weichspüler, ein verführerisch-abstoßendes Gemisch, das sich mir tief eingeprägt hat, ich konnte dort nie übernachten. Nach der vierten Klasse kam ich aufs Gymnasium, M. blieb auf unserer Schule sitzen. Wir sahen uns noch auf dem verbotenen Bolzplatz mit dem irren Hausmeister. M. brachte mir bei, wie man GSG9-mäßig über die Zäune plankte und sich vor seiner Mordlust rettete.

Seine Autos wurden schneller, seine Unfälle spektakulärer

Manchmal kam M. mit auf meine Schulfeste, schüttete sich Whiskey in seine Cola, sagte nichts, tanzte nicht, ging eine rauchen und nahm das schönste Uptowngirl des Abends auf seiner 80er-Enduro mit in die Nacht. Er zog in eine WG mit Bohemefreunden von mir, der Konflikt wurde mörderisch, er zog zum Glück für die anderen gerade noch rechtzeitig aus. Dann stellte er uns alle in einem Pizzaausfahrdienst an, gründete Firmen, politisierte problematisch, legte Offenbarungseide ab.

Seine Autos und Motorräder wurden schneller, seine Unfälle spektakulärer. Hätte mich wer angerufen und gesagt, M. sei auf einer Südtiroler Passstraße aus der Kurve getragen worden, ich hätte geschluckt und „In the Dutch Mountains“ gesummt, seinen Lieblingssong in Verbindung mit Geschwindigkeit.

Aber M. bekam sie, die Kurve, er baute sich was auf, eine Familie, eine Eigentumswohnung, einen Weinberg, er schuf sich eine eigene Ordnung, er konnte mit allen Menschen sprechen, ohne ihre Sprache zu lernen, er wurde wer, in dem neuen Land, das er sich erschlossen hatte. Gestorben ist er jetzt allein im Bett, mein wilder Freund, mein kleiner großer gleichaltriger Bruder.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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