Wie im Gefängnis: Kashgar - Kulturerbe vor der Zerstörung
Die Hauptstadt der Uiguren an der Seidenstraße ist die Wiege islamischer Zivilisation in Zentralasien. Der Abriss der Altstadt soll nicht nur neue Wohnungen, sondern auch neue Identitäten herstellen
Es ist staubig und heiß. Die Sonne brennt in den engen Gassen der Altstadt von Kashgar. Ein einstöckiges Haus aus Lehm und Stroh schließt an das nächste an. Die ockerfarbenen Gebäude scheinen fließend ineinander überzugehen. Etwa alle fünf Meter sieht man ein Tor aus zwei Holztüren. Dahinter befindet sich ein kleiner Hof, häufig mit einer Werkstatt, manchmal auch an der Seite mit einem kleinen Stall und ein paar Schafen. Etwas versteckt in einer Ecke, verhangen mit bunten Tüchern, gibt es Raum zum Schlafen. Ungefähr 200.000 Menschen leben hier noch heute auf diese althergebrachte Art. Zwischen den Wohnhäusern findet man zahlreiche kleine Moscheen, manche nur am Halbmond auf dem Dach zu erkennen. Ganz natürlich fügen sie sich in das homogene Stadtbild ein. Von oben sieht die in Teilen 2.000 Jahre alte Stadt aus, als sei sie aus einem Stück in den Fels gemeißelt.
Kashgar, das ist die ursprüngliche Hauptstadt der Uiguren, einstiges Handelszentrum an der Seidenstraße und Wiege islamischer Zivilisation in Zentralasien. Als Marco Polo im Jahre 1280 die Stadt betrat, diktierte er später für seine Erinnerungen: "Die Bevölkerung lebt von Handel und Gewerbe. Viele Händler ziehen von hier in die ganze Welt hinaus." Heute gehört die Stadt zu China. Sie liegt am Rand der krisengeschüttelten autonomen Region Xinjiang, ganz im Nordwesten der Volksrepublik. Noch erinnern die belebten Basare, Moscheen und Karawansereien an die glorreichen Zeiten, als sich Handelsreisende aus aller Welt in Kashgar trafen, um zu handeln, zu tauschen oder nur zu rasten. Durch ihre Lage, nahe der Grenzen zu Tadschikistan, Afghanistan, Pakistan und Indien war die Wüstenstadt über Jahrhunderte ein Verkehrsknotenpunkt an der Seidenstraße, dem Netz aus Handelsstraßen, das Asien mit Europa verband. Über sie wurden Seide, Gold und Gewürze zwischen den Kontinenten hin- und hertransportiert.
Doch lange wird man die geschichtsträchtige Altstadt von Kashgar nicht mehr bewundern können. Auf Betreiben der Provinzregierung in Ürümqi wurde mit dem Abriss der Altstadt begonnen. Inden nächsten Wochen und Monaten sollen tausende Gebäude zerstört werden. So wurde, neben einigen Straßenzügen, schon die mittelalterliche Koranschule Xanliq Madrasa abgerissen, die die lange Tradition philosophischer und religiöser Studien in der Region dokumentierte. Im 20. Jahrhundert galt sie als Zentrum des uigurischen Widerstands gegen die Kommunistische Partei Chinas. Nur etwa 15 Prozent des ursprünglichen Kerns der Altstadt sollen erhalten bleiben - als Freilichtmuseum für Touristen. Laut den chinesischen Behörden sollen als Ersatz für den Rest der Altstadt neue Wohnblocks entstehen. So solle die Bevölkerung vor Erdbeben geschützt werden. Eine Begründung, die viele Uiguren nicht verstehen können, haben ihre Häuser doch 2.000 Jahre allen Naturereignissen getrotzt.
Für den uigurischen Studenten, der aus Angst vor den chinesischen Behörden nicht genannt werden möchte, ist das Vorgehen der chinesischen Provinzregierung eine Provokation, ein Angriff auf die uigurische Lebensweise. "Die Altstadt ist Teil unserer Kultur, unserer Identität. Die können da doch nicht einfach ihre chinesischen Hochhäuser hinbauen."
Doch derzeit sieht es ganz danach aus. Zwar werden einige Gebäude auch im ursprünglichen Stil wieder aufgebaut, doch der Plan für moderne Wohnblocks steht. Vor allem von außen erkennt man die großen Lücken im Stadtbild. Kräne ragen in den Himmel. Besonders wenn man vom Sonntagsmarkt in Richtung der historischen Altstadt schaut, sieht man die Baustellen. Dabei sind es nicht die einzelnen Gebäude, die Kashgar so besonders machen, sondern die Homogenität der hauptsächlich aus Lehm errichteten Stadt.
Die chinesischen Behörden wollten den uigurischen Charakter der Stadt um jeden Preis zerstören, steht in einem Report der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Sicherheitsbehörden sehen Kashgar als Zentrum des uigurischen Widerstands gegen die chinesische Herrschaft. Dass die chinesischen Behörden tatsächlich terroristische Anschläge oder zumindest neue Unruhen befürchten, ist in Kashgar schnell zu erkennen. Auch acht Wochen nach den schweren Unruhen in Xinjiang wirkt die Stadt wie im Belagerungszustand. Militärkonvois transportieren chinesische Soldaten durch die Straßen, einige haben Maschinengewehre im Anschlag. Über Megafone wird die Bevölkerung zu Kooperation und Ruhe aufgefordert. Überall stehen Polizisten und Soldaten, besonders rund um die Altstadt.
Kultur und Ansehen der Uiguren erfuhren einen rapiden Niedergang nach der Okkupation Ostturkestans durch die chinesische Mandschu-Dynastie 1876. Am 18. November 1884 wurde Ostturkestan offiziell dem Mandschu- Reich eingegliedert und erhielt den Namen Xinjiang. Die chinesischen Besatzer, ob feudaler, nationaler oder kommunistischer Provenienz, betrieben immer eine Politik systematischer Assimilierung.
Wer heute in der autonomen Region Xinjiang unterwegs ist, sollte sich darauf gefasst machen, dass es im Moment kein Internet gibt, auch das Mobilfunknetz ist nur eingeschränkt nutzbar. Einen Reisepass sollte man bei sich tragen und auf das Fotografieren von Polizisten und Soldaten verzichten.
In Kashgar gibt es mehrere günstige Hotels in der Nähe der uigurischen Altstadt, wie das Seman Binguan (Doppelzimmer ab umgerechnet etwa 6 Euro) oder das Qiniwake Binguan (DZ ab 12 Euro), in denen auch ein wenig Englisch gesprochen wird.
Anfang Juli war es nach zuerst friedlichen Demonstrationen in Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Han- Chinesen und Uiguren gekommen. Das chinesische Militär brachte die Situation nur mit brutalem Einschreiten und massenhaften Verhaftungen unter Kontrolle. Zahlreiche Menschen kamen ums Leben. Auch in Kashgar kam es zu Demonstrationen und Verhaftungen. Etwa neun Millionen Uiguren leben in Xinjiang, sie versuchen trotz der Einverleibung durch China ihre eigene Kultur und muslimische Religion zu bewahren. Immer wieder kam es inder Vergangenheit zu Auseinandersetzungen. Seit Jahrzehnten siedelt die chinesische Regierung Han-Chinesen in der Region an, stattet diese mit finanziellen Mitteln aus. Die Uiguren haben immer schlechtere Chancen, Arbeit zu finden.
In Kashgar erschwert die andauernde Präsenz der chinesischen Sicherheitskräfte den Alltag vieler Uiguren, die unter ständiger Beobachtung stehen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie sich von den chinesischen Behörden unterdrückt fühlen. "Man kommt sich in seiner eigenen Stadt vor wie im Gefängnis. Überall ist Polizei, überall gibt es Straßenkontrollen," erzählt der uigurische Student. Der Abriss der Altstadt von Kahsgar erscheint in diesem Zusammenhang als ein weiterer Eingriff der chinesischen Behörden in die Kultur und Religion der muslimischen Minderheit. 2.000 Jahre Geschichte, das kulturelle Erbe einer ganzen Region scheinen sicherheitspolitischen Spielchen zum Opfer zu fallen.
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