Wie die Türkei auf Deutschland blickt: Mein Onkel räumt das Zimmer frei
In der Türkei gibt es viele positive Vorurteile über Deutschland. Aber der sonst herumalbernde Onkel unserer Kolumnistin macht sich ernsthafte Sorgen.
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I n der Türkei gibt es einige Begriffe und Eigenheiten, die ihren Ursprung in Deutschland haben. Neben der „deutschen Rechnung“ – jeder bezahlt getrennt, was in der Türkei eher unüblich ist – sagt man auch oft „deutsche Pünktlichkeit“, wenn jemand besonders zuverlässig ist. Und wenn ein Geschäft pünktlich um eine bestimmte Uhrzeit schließt, hört man manchmal scherzhaft: „Das ist wie in Deutschland.“ Diese kleinen Details zeigen, wie stark Deutschland in der türkischen Wahrnehmung verankert ist.
Neulich telefonierte ich mit meinem Onkel aus Istanbul. Schon beim ersten Lachen wusste ich, dass er wohl eine seiner ironischen Fragen stellen würde. Tatsächlich: „Und, wann wirst du jetzt eigentlich abgeschoben?“ Natürlich meinte er es als Spaß. Aber die aktuelle politische Lage in Deutschland bereitet ihm hörbar Sorgen.
In den türkischen Medien lese und höre man zunehmend von rechtsextremen Netzwerken in Deutschland, die sogar über Massenabschiebungen nachdenken. „Glaubst du, das ist nur Gerede für den Wahlkampf oder muss man sich wirklich Sorgen machen?“, fragt er plötzlich ernster.
Er bewundert Deutschland nach wie vor – die wirtschaftliche Stabilität, das Sozialsystem, die Ordnung. Aber er nimmt auch die Spannungen wahr. Er hat selbst in Deutschland gelebt, bis er sich aus privaten Gründen entschied, wieder zurück nach Istanbul zu gehen.
„Deutschland gibt sich gerne als Vorbild für Demokratie“, sagt er, „aber was passiert, wenn eine Partei wie die AfD wirklich an die Macht kommt? Dann stellt ihr vielleicht Statuen von Alice Weidel oder hängt Bilder von Hitler auf? Stell dir mal vor!“ Er lacht wieder.
Dann wechselt er das Thema. „Na ja, so viel besser ist es bei uns nicht“, meint er. „Die Preise steigen täglich, und viele Leute können sich nicht mal mehr Grundnahrungsmittel leisten.“ Die wirtschaftliche Krise in der Türkei ist allgegenwärtig – hohe Arbeitslosigkeit, schwächelnde Lira, steigende Mieten. „Früher konnten wir uns noch ein halbwegs gutes Leben aufbauen“, sagt er.
Auch die politische Lage in der Türkei ist angespannt. „Du kannst hier nicht einfach alles sagen, was du denkst“, erklärt er. Gleichzeitig verstehe er die Doppelmoral westlicher Länder nicht: „Deutschland kritisiert ständig die türkische Regierung, aber sie arbeiten trotzdem mit ihr zusammen, wenn es ihnen passt.“
Mein Onkel hofft, dass Deutschland stabil bleibt – für alle und für ganz Europa: „Sie haben die Nazis hervorgebracht, ja,“ und dann muss er wieder lachen, „aber sie haben auch die Antifa hervorgebracht! Das darf man nicht vergessen.“ Einen Tipp hat er noch für mich: „Ich hoffe, du wählst die Linken, die scheinen die einzig Stabilen zu sein.“
Mein Onkel scherzt sehr gern, aber dieses Mal bleibt am Ende eine gewisse Ernsthaftigkeit zurück. „Also“, sagt er, „soll ich dein Zimmer schon mal frei räumen, falls es bei euch eng wird?“ Ich lache. Aber ich frage mich: Ist es wirklich so abwegig?
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