Wider das Revolten-Bashing: Gnade für die 68er
Über die Revolte ist eigentlich alles gesagt. Trotzdem bewegt sie noch immer die Gemüter. Denn ihre Folgen wirken bis heute
"1968 war ein Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Faulheit, Mittelmass. Wir leiden noch immer darunter. 1968 bestimmt unser Leben bis in die letzten Fasern: Staatsgläubigkeit, kryptosozialistische Versorgungssysteme, Selbsthass, Identitätsverlust." Kai Dieckmann, Chefredakteur von "Bild", 2007
eunzehnhundertachtundsechzig ist 40 Jahre entfernt. Zwischen jetzt und damals liegt ein Zeitraum, der mehr als dreimal länger ist als die NS-Zeit währte. Zwischen 1968 und heute liegt die deutsche Vereinigung, das Ende des Realsozialismus, das Internet, die Jahrtausendwende, die verschärfte Globalisierung. Und Rot-Grün, die Ära, in der mit Schröder, Fischer & Schily symbolisch die "68er" an die Macht kamen. 2001 wurde, fokussiert auf Joschka Fischer, eine geschichtspolitische Schlacht angezettelt, in der noch mal alles auf den Tisch kam: die Gewalt, die Selbstheroisierung der "68er" und die verkrampften Versuche der Rechten, daraus politisches Kapital zu schlagen.
Mit der Fischer-Debatte ist sogar die Aktualisierung von "68" für gegenwärtige Zwecke Zeitgeschichte geworden. Ist es jetzt nicht langsam genug mit "68"? Sind nicht alle Anekdoten erzählt, alle Deutungen entworfen, alle Abrechnungen publiziert und alle Abgrenzungsrituale der Jüngeren gegen die übermächtigen "68er" durchexerziert? Kann man die Revolte nicht endlich, wie die Ostverträge oder die Bildungsreform, in die Hände von vertrauenswürdigen Fachhistorikern legen, die solide Interpretationen entwerfen, die niemand mehr wirklich bewegen?
Offenbar nicht. 1968 scheint die Geschichte der Bundesrepublik noch immer auf wundersame Weise in ein Davor und Danach zu teilen. 1968 geschahen andernorts, in den USA, Frankreich, Mexico, Polen und der CSSR politisch viel heftigere Beben und Gewaltexplosionen. Aber nirgends ist "68" zu einer so wirkungsmächtigen Chiffre geworden wie hierzulande. Es gibt noch immer keinen völlig abgekühlten Standpunkt von außen (was auch daran liegt, dass die meisten im Umlauf befindlichen Großrauminterpretationen von - genau - "68ern" stammen.)
Offenbar ist 1968 etwas geschehen, das bis ins Heute ragt. Autoritätsverhältnisse in den Familien, Schulen, Betrieben und Ämtern wurden geschliffen, in der Beziehung zwischen den Geschlechtern galt nicht mehr, was immer gegolten hatte. Wo fraglose Autoritäten herrschten, gibt es heute komplexe Aushandlungsprozesse. "1968" symbolisiert eine Veränderung des kollektiven Sozialcharakters: Steifes wurde gelockert, Starres verflüssigt. Etwas hat sich verändert, zum Missvergnügen vieler Konservativer bis heute.
Man kann den Schock, den die Revolte 1968 und der Machtverlust 1969 für die die konservativ-bürgerliche Elite bedeutete, kaum überschätzen. Denn es war ja ein Teil des eigenen Nachwuchses, der sich aus heiterem Himmel von angepassten, strebsamen Jungakademikern in renitente, von Drogen oder Neomarxismus benebelte Langhaarige verwandelte. Sie lasen Bücher, die ihre Eltern nicht verstanden und hörten Musik, die nichts als Krach war. Die Konservativen verloren Ende der 60er Jahre die "kulturelle Hegemonie". Stolz auf das Wirtschaftswunder, Identifikation mit den guten Siegern, den USA und Antikommunismus reichten nicht mehr aus. Dass ausgerechnet die USA, das leuchtende Vorbild, das der Bundesrepublik die Demokratie geschenkt hatte, in Vietnam einen barbarischen Krieg führten, brachte das Wertesystem in Wanken.
"68" hat die Wertkonservativen Jahrzehnte nicht los gelassen. Ihr Kritik klingt seitdem ziemlich gleichtönend: zu viel Freiheit, zu wenig Bindung, zu viel Hedonismus, zu wenig Verantwortung. Die Psychotherapeutin Christa Meves - das konservative Pendant zu Horst-Eberhard Richter - hat "68" mit beachtlicher Ausdauer als Symbol haltloser Libertinage bekämpft. In ihrer Lesart war die Revolte ein Sündenfall, der der Republik Geißeln wie zu wenig Kinder, mehr Scheidungen (wegen des Feminismus), weniger Leistungswille (wegen einer "zerstörerische Gleichheitsideologie" (Meves) und mehr Abtreibungen einbrachten. "68" hätten Feministinnen gemeinsam mit linken Ideologen, befördert durch die Freigabe der Pille 1965, die Familien zerstört. Seitdem gelten Hausfrauen nichts mehr, Männer fürchten sich vor emanzipierten Frauen, und die haben es mit bindungsschwachen Männern zu tun. Auch das bei der RAF relativ viele Frauen waren, verbucht Meves als Emanzipationsschaden: als Ergebnis "einseitig vermännlichte Bildung" und einer "sexualisierten Lebensweise".
eves erreichte mit diesen grobgeschnitzten Thesen über die Jahrzehnte zwar hohe Auflagen - aber irgendwie kamen diese Kulturkampfschriften in der Mitte nie wirklich an. Obwohl stets das Banner des Kampfes gegen linke Ideologien gehisst wurde, rochen diese Thesen selbst scharf nach Zwangsbeglückung. Und nach einem muffigen Traum von den 50ern Jahren, in denen der Frauen Hausfrauen, Kinder brav und Sex & Ehe Synonyme waren.Vor allem aber war und ist diese konservative Fundamentalkritik unterkomplex. Was sie ins Visier nimmt, ist viel mehr als "68": Sie richtet sich gegen die Freiheitsgewinne des individualisierte, flexiblen Kapitalistismus insgesamt - und setzt hilflos-aggressiv eine reaktionäre Vision von einer Welt dagegen die es nie gab: heil, behütet und streng patriarchalisch.
Es war insofern kein Zufall, dass es bei dem einzigen Versuch, mit einem kulturellen rollback von "68" ernst zu machen, bei der Ankündigung blieb. 1983 kündigte Helmut Kohl eine "geistig moralische Wende" an - von der danach nie wieder die Rede war. Die Konterrevolte gegen Wertezerfall, sozialistische Gleichheitsideologie und "deutschen Selbsthass" fiel aus. Irgendwie hatte sich auch das eigene Fußvolk an die Post-68er Freiheitsgewinne gewöhnt. Die Studentenrevolte hatte, verbunden mit Pop-Kultur und Hippies eine "Fundamentaliberalisierung" (Jürgen Habermas 1988) in Gang gesetzt, gegen die kein Kraut gewachsen war. Zumal neblig blieb, wohin die Retroreise führen sollte - zu Adenauer? Angela Merkels Kritik an den 68ern in der Fischer-Debatte relativierte sich dadurch, dass sie ohne jene "Fundamentaliberalisierung" kaum CDU-Chefin geworden wäre. Die zähe Verwandlung der CDU von einem Honorationenclub in eine leidliche liberale Partei wurde jedenfalls durch den Doppelschock von Revolte und Machtverlust 1967/69 ausgelöst.
Erfolgreicher als die vergebliche konservative Kulturkrititk erscheint, zumindest derzeit, die politische Kritik der Revolte. Die Studentenbewegung, so der CDU-Historiker Gerd Langguth und Herman Lübbe, hätten die RAF vorbereitet. "68" sei ein Rückfall in utopisches Denken gewesen, in Verachtung der demokratischen Institutionen und - Höchststrafe - der Bruch mit dem antitotalitären Konsens der Bundesrepublik. (Wobei der Antitotalitarismus der 50er einschloss, dass Ex-NS-Richter Recht sprachen, während Kommunisten in Haft saßen.)
Das konservative 68er-bashing führte lange ein Schattendasein. Auch Liberalkonservative, wie Richard von Weizsäcker, deuteten die Revolte 1990 als Schub Richtung mehr Demokratie. Vor allem in den 90ern wurden die "68er" als Protestfolklore ins Selbstbild eingemeidet - verstärkt durch die heftige Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik, die viele imWesten nach der Wiedervereinigung erfasste.
Aufwind bekamen die konservative Revolte-Kritik erst seit auch 68er (z.B. Wolfgang Kraushaar) ähnliche Töne anschlagen und die Revolte als Rückfall ins Totalitäre deuten. Nun lag die APO damals in der Tat in fast allen politischen Fragen falsch. Die Notstandsgesetze waren nicht die Eintrittskarte in den Faschismus, sondern verstaubten in Ablagen. Der Spätkapitalismus ging nicht, wie theoretisch vorgesehen, unter - im Gegenteil. Der liberale Kapitalismus erwies seine staunenwerte Kraft gerade darin, noch seine schärfsten Gegner zu integieren. Der radikaldemokratische Impuls der Revolte kippte, unter dem Eindruck der selbst mit in Gang gesetzten Eskalation mit dem Staat, in Rechthaberei.
ber die Mode, Rudi Dutschke als Vordenker von Andreas Baader, die "68er" more or less als Antisemiten und totalitäre Gefahr zu brandmarken, hat etwas Unangenehmes. Abrechungen mit eigenen Jugendirrtümern wirken selten souverän. Und der Gestus des Denkmalsturzes hat selbst etwas 68erhaftes - so versichert man sich noch ex negativo, dass man doch enorm geschichtswichtiges Personal war.
Vielleicht sollte man gegen die heißen Abrechnungen einen kühlen Blick von außen zitieren: "Keine Revolution ist demokratisch. Dafür war die Bundesrepublik eine gefestigte Demokratie. Die konnte das ab", so der frühere israelische Botschafter Avi Primor über die Revolte.
Kulturell haben die "68er" gewonnen, weil sie beschleunigten, was in der Luft lag: die Verwandlung des auf Pflicht und Ordnung fixierten Fabrikkapitalismus in den individualisierten, auch unsichereren Kapitalismus der Informationsgesellschaft. Bleibt auch politisch etwas außer Irrtümern? Am ehesten die Idee des Supranationalen. Und die Erinnerung, dass globale Gerechtigkeit noch immer uneingelöst auf der Tagesordnung steht. Heute.
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