Whistleblower gegen Grenzschützer: „Schlag Alarm!“
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex streitet Fehlverhalten ab. Die NGO „Frag den Staat“ ruft nun Mitarbeiter:innen dazu auf, Missstände zu melden.
„Siehst du was – sag was“: Diese Forderung sehen dieser Tage Beschäftigte der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf ihrem Arbeitsweg. Die NGO Frag den Staat hat großflächige Werbeflächen rund um die Frontex-Zentrale – drei hohe Glastürme im Westen der Warschauer Innenstadt – gebucht und die Plakate aufhängen lassen. Wer nicht ins Büro fährt, bekommt entsprechende Nachrichten auf sein Linked-In-Profil: „Schwerer Machtmissbrauch“ habe bei Frontex-Operationen zu Missachtung von Grundrechten geführt, heißt es da. „Schlag Alarm!“ Whistleblowing aus dem Innern des Sicherheitsapparats – darauf zielt die Kampagne.
Zu leaken gäbe es vieles, glaubt die Juristin Luisa Izuzquiza von Frag den Staat. Menschenrechtsverletzungen seien an den europäischen Grenzen „zur Routine und zur Norm geworden“, sagt sie. In den vergangenen Jahren hätten zahlreiche Untersuchungen die Beteiligung von Frontex an Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt.
In Griechenland etwa habe die Agentur illegale Pushbacks in die Türkei durchgeführt, im zentralen Mittelmeer arbeite sie mit der sogenannten libyschen Küstenwache zusammen, um Boote zurück nach Libyen zu schleppen, wo die Menschen „konzentrationslagerähnlichen“ Bedingungen ausgesetzt sind. Und in Bulgarien sehe Frontex zu, wie Menschen in Geheimgefängnissen festgehalten werden, bevor sie illegal abgeschoben werden.
Wegen solcher und ähnlicher Handlungen ist Frontex derzeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt.
„In der Öffentlichkeit leugnet Frontex routinemäßig jegliche Beteiligung oder jegliches Fehlverhalten“, sagt Izuzquiza. Und Belege für die Rechtsverstöße zu sammeln, ist schwierig. Izuzquiza selbst hatte das in der Vergangenheit erfahren müssen. Sie hatte 2018 – damals noch bei der NGO Corporate Europe Observatory – eine erfolglose Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz an Frontex gestellt.
Doch die Agentur wollte die Informationen über ihren damaligen Einsatz im zentralen Mittelmeer nicht rausrücken, wehrte sich vor Gericht – und schickte Izuzquiza anschließend eine Anwaltsrechnung über fast 24.000 Euro. Das sei „Teil einer breiter angelegten Strategie, öffentliche Kontrolle über Frontex-Aktivitäten nicht zuzulassen“, sagte Izuzquiza damals der taz.
Nun sollen also die Frontex-Mitarbeiter:innen selbst Informationen nach außen tragen, die die Agentur am liebsten vor der Öffentlichkeit verborgen wissen will – das ist die Idee der neuen Kampagne. Ob sich Mitarbeiter:innen davon tatsächlich angesprochen fühlen werden, ist offen. Doch die Kampagne will auch darauf hinweisen, dass viele Vergehen, die unter anderem durch Untersuchungen der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf bekannt wurden, bis heute nur unvollständig aufgeklärt sind.
Verantwortung für EU-Außengrenzen
Das hatte unter anderem zur Folge, dass im April 2022 der langjährige Direktor, der Franzose Fabrice Leggeri, zurücktreten musste. Seit Dezember wird die Agentur von einem Soldaten geführt – dem niederländischen Generalleutnant Hans Leijtens. Der soll den bis 2027 geplanten Ausbau der Agentur zu einer eigenständigen, supranationalen EU-Grenzpolizei vorantreiben.
Erst in der vergangenen Woche hatte der Frontex-Grundrechtsbeauftragte Jonas Grimheden vorgeschlagen, ein neues Prinzip einzuführen, um Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Gäbe es Verstöße, etwa durch die nationalen Grenzpolizeien in einem Einsatzgebiet, solle Frontex sich nicht zurückziehen, wie es die derzeit gültigen Regeln vorsehen. Stattdessen solle die Frontex-Präsenz in der entsprechenden Region aufgestockt werden.
„In einem solchen Szenario würde die EU mehr Verantwortung für die Praktiken und den Ruf der Außengrenzen übernehmen, die nicht nur nationale Grenzen, sondern auch EU-Grenzen sind“, sagte der Grimheden der Zeitung nd. Er hatte den Posten im Juni 2021 übernommen, nachdem seine Vorgängerin von der Frontex-Spitze aus dem Amt gedrängt worden war – auch das war Gegenstand des Olaf-Berichts.
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger weist den Vorschlag zurück. „Die Zahl der gewaltvollen Pushbacks ist in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt, und das mit der Anwesenheit von Frontex“, sagte die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion dem nd.
Derweil meldete Frontex Anfang der Woche rund 330.000 irreguläre Grenzübertritte in die EU im Jahr 2022: 64 Prozent mehr als im Vorjahr, etwa so viele wie 2016.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus