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Wetterextreme in der TürkeiErdoğans Katastrophensommer

Die Zahl der Hochwassertoten in der Türkei ist auf 70 gestiegen. Die einzige Brücke, die den Fluten standhielt, stammt aus osmanischer Zeit.

Ein eingestürztes Gebäude in Bozkurt in der türkischen Provinz Kastamonu Foto: ap

Berlin taz | Die Klimakatastrophe hat in der Türkei in den letzten Wochen ihren Tribut gefordert. Als an der Mittelmeerküste noch die Wälder brannten, kam es im Norden am Schwarzen Meer in der vergangenen Woche zu einer Flutkatastrophe, deren Ausmaß erst jetzt richtig deutlich wird: Stand Dienstagmittag zählte die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad 77 Tote; mindestens weitere 40 Menschen werden noch vermisst, von denen die meisten wohl ebenfalls Opfer der Fluten geworden sind.

Die Tragödie ereignete sich am Mittwoch und Donnerstag letzter Woche in den Provinzen Bartın, Kastamonu und Sinop im Hinterland des Schwarzen Meers. In wenigen Minuten wurden kleine Bäche zu reißenden Strömen, die ganze Häuserreihen wegspülten und etliche Menschen in den Tod rissen. Immer noch sind 30 Dörfer von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschnitten, haben keinen Strom und keine funktionierenden Trinkwasserleitungen mehr.

Obwohl es an der türkischen Schwarzmeerküste auch im Sommer immer wieder zu heftigen Regenfällen kommt, übertrafen die Wassermassen, die letzten Mittwoch herunterkamen, alles, was in den letzten Jahrzehnten je gemessen wurde. Besonders schlimm traf es den Bezirk und den Ort Bozkurt, wo der Fluss Ezine am Donnerstag plötzlich Häuser, Brücken, Autos und etliche Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, mitriss.

Baupolitik führte zum Desaster

Dem Hochwasser am Schwarzen Meer war ein 14 Tage anhaltendes Großfeuer an der Mittelmeer- und Ägäisküste vorausgegangen. Die Feuer in der Provinz Muğla waren noch nicht gelöscht und das ganze Land schaute noch auf die Brandkatastrophe, als sich schon die Flutkatastrophe im Norden des Landes ereignete.

Zu Beginn wurde die Flutwelle angesichts der Feuer unterschätzt. Nun zeigt sich, dass sie ungleich mehr Opfer gefordert hat als die Brandkatastrophe. Während bei den Bränden acht Menschen starben, dürften in den Fluten weit über hundert Menschen ertrunken sein.

Bei beiden Katastrophen wird die mangelnde Reaktion und Vorsorge der Behörden, für die im jetzigen autokratischen System des Landes letztlich Präsident Recep Tayyip Erdoğan verantwortlich ist, kritisiert. Waren es im Süden die nicht vorhandenen Löschflugzeuge, ohne die tagelang die Ausbreitung der Feuer nicht verhindert werden konnte, ist es in den Schwarzmeerprovinzen die von der Regierung geförderte Baupolitik, die zum Desaster führte.

Die Stadt Bozkurt am Fluss Ezine Foto: taz

Beispielhaft dafür ist der Fluss Ezine. In der Vergangenheit wusste man, dass der Fluss regelmäßig über die Ufer tritt und baute entsprechend. Die einzige Brücke, die die jüngste Flutwelle überstand, ist ein historisches Bauwerk, das vor 600 Jahren von den Osmanen gebaut wurde und 1,3 Kilometer über das gesamte Überschwemmungsgebiet führt.

Fluttore wurden geöffnet

In den letzten Jahrzehnten wurde der Fluss begradigt und immer weiter eingeengt. An den neuen Ufern entstanden zahlreiche Häuser, von denen viele jetzt zerstört wurden und unter deren Trümmern die bislang noch Vermissten vermutet werden. Nach Angaben der Opposition wurde das Desaster verschärft durch einen kleinen Staudamm nördlich des Ortes Bozkurt, der die Wassermassen nicht mehr fassen konnte. Die Fluttore wurden daraufhin geöffnet, was die Welle, die durch die Dörfer rauschte, noch verstärkte.

Seit Jahren wird in verschiedenen Schwarzmeerprovinzen dagegen protestiert, dass die Regierung praktisch jeden Bach einmauert und zur Stromerzeugung nutzt. Wo das natürliche Gefälle nicht reicht, wurden Staudämme gebaut. Das und die damit verbundene Grundstücksgewinnung zum Häuserbau rächt sich nach Ansicht von Experten jetzt. Den Flüssen und Bächen wurde ihr natürlicher Auslauf genommen, sagte ein Sprecher von Greenpeace.

Präsident Erdoğan machte derweil in beiden Katastrophengebieten keine gute Figur. Die Menschen fühlten sich sowohl im Brandgebiet als auch in der Flutregion vom Staat alleingelassen. Angesichts der leeren Staatskassen glauben die meisten auch nicht an die Versprechen, dass ihre Häuser wieder aufgebaut werden und der Wald aufgeforstet wird.

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1 Kommentar

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  • Nuja, ein schöner neuer Palast war halt wichtiger, da mussten Prioritäten gesetzt werden.