Werkschau von Portugiese José Afonso: Teller ist leer, Krug gibt was her
„Grândola, Vila Morena“ von José Afonso (1929–1987) ist der Song zur portugiesischen Nelkenrevolution. Warum seine Musik modern bleibt.
„Seit 2022 hatten wir drei Nummer-eins-Alben“, erklärt Nuno Saraiva mit sichtlichem Stolz. Denn er spricht über Werke, die ursprünglich bereits vor mehreren Jahrzehnten veröffentlicht worden waren. Der Portugiese Saraiva arbeitet in Lissabon als Labelbetreiber von SCL Records und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Musik von José „Zeca“ Afonso in die Gegenwart zu holen.
Mit der taz telefoniert der Musikliebhaber, während er in Horta auf den weitab von Lissabon gelegenen Azoren ein Konzertformat mit Neuinterpretationen von Afonsos Songs mit vorbereitet. „Cantares do Andarilho“ heißt das Festival, nach einem der knapp ein Dutzend Afonso-Alben, die Saraiva auf seinem Label Mais 5 verlegt.
José Afonso hat mit einer Kombination aus portugiesischem Folk und afrikanischer Rhythmik ein Crossover, wie heute im Globalpopsound ubiquitär, vorweggenommen. Afonso, so formuliert es Saraiva, würde inzwischen eventuell als Singer-Songwriter durchgehen, zu seiner Zeit sagte man zu ihm Liedermacher.
Interventionistisches Lied
In der portugiesischen Heimat galt und gilt der Musiker als Mitinitiator des cancao de intervencao, des kritisch „engagierten“, beziehungsweise wörtlich übersetzt „interventionistischen Liedes“.Keine schlechte Umschreibung, wenn sie nicht über die Jahre einen Beigeschmack bekommen hätte.
José Afonso: „Eu Vou Ser Como A Toupeira“, „Venham Mais Cinco“, „Enquanto Há Força“, „Fados De Coimbra E Outras Canções“ und viele andere Alben von ihm wiederveröffentlicht (Mais 5/Broken Silence)
Dabei hat Afonso tatsächlich interveniert: Vor fünfzig Jahren, am 25. April 1974 um 25 Minuten nach Mitternacht, wurde sein Lied „Grândola, Vila Morena“ vom, ein nicht unwesentliches Detail, katholischen Radiosender Renascença gespielt. Vorausgegangen war „E depois do Adeus“ von José Niza und Paulo de Carvalho. Der zweistufige Geheimcode zum Ausrücken der linksorientierten Armee Movimento das Forças Armada war gesendet und am Morgen fand schließlich die Nelkenrevolution in Portugal statt.
Jener Aufstand, der eine längere Vorgeschichte hatte, machte Schluss mit dem gesichert antikommunistischen Estado Novo des Mussolini-Bewunderers António de Oliveira Salazar. Unter ihm, der Portugal von 1933 bis 1968 regiert hatte, war das Land im Jahr 1949 Gründungsmitglied der Nato geworden.
Kolonialkrieg in Angola und Mozambik
Salazars Nachfolger, Marcelo Caetano, hatte aus den Sechzigern einen von Portugal mit äußerster Brutalität geführten Kolonialkrieg in Angola und Mosambik geerbt. Der Geschichts- und Philosophielehrer José Afonso hatte in Mosambik das portugiesische Kolonialregime und den Widerstand dagegen erlebt, erinnert sich seine Tochter Helena.
Im ersten Jahr in Maputo sollte Afonso seine Arbeit verlieren. Danach ging er in den Norden Mosambiks und in die Townships, wo er sehr genau zuhörte. Seine Tochter hat er manchmal dahin mitgenommen und sie konnte so erleben, wie der Vater, der seit seiner Jugend musizierte, Lieder komponierte.
„Nicht wie Thomas Mann“, sagt sie heute rückblickend. „Es gibt Leute, die setzen sich hin, er blieb ständig in Bewegung.“ José Afonso hatte Fußball gespielt und Judo trainiert, ergänzt Helena. Das Interview mit ihr fand 2022 anlässlich der Wiederveröffentlichung der von 1968 bis 1971 erschienenen Alben ihres Vaters statt.
Wie ein Maulwurf
Nuno Saraiva hat sich nach dieser ersten Runde von Reissues mittlerweile bis in die frühen Achtzigerjahre vorgearbeitet. Den Anfang macht das im Jahr 1972 erschienene Album „Eu Vou Ser Como A Toupeira“. „Toupeira“ nennen die Portugiesen den Maulwurf, und eine Darstellung des Tierchens aus einem Wörterbuch der 1930er Jahre bildet das Covermotiv.
Nicht von ungefähr, der Angsttraum angemaßter Herrschaft ist seit jeher die als Wühltätigkeit empfundene Arbeit ihrer Gegner. „Eu Vou Ser Como A Toupeira“ ist mit der Schnelligkeit eines Guerillaauftritts in einem Madrider Tonstudio entstanden. Dass der in Portugal auf dem Index stehende und dabei prominente Afonso ausgerechnet im franquistischen Spanien aufnehmen konnte, verdankte sich seiner relativen Unbekanntheit im Nachbarland.
Das Album beginnt mit einem Lied für den 1961 von der portugiesischen politischen Polizei Pide ermordeten Maler und Antifaschisten Dias Coelho: „A Morte Saiu à Rua“ klingt dabei nach würdigem Gedenken und nicht nach Rachegedanken.
Gedicht von Pessoa vertont
Saraiva weist im Gespräch ausdrücklich darauf hin, dass José Afonso politischer Künstler und gleichzeitig immer Musiker war. An späterer Stelle des Werks vertont der Linke Afonso mit „No Comboio Descendente“ auch ein Gedicht des liberal-konservativen Schriftstellers Fernando Pessoa.
Aus den von Gitarren getragenen Liedern sticht das Stück „Ó Ti Alves“ heraus, auf dem der mehrstimmige Gesang von Perkussion eingeleitet wird: Es handelt sich um die Adufe, erläutert Saraiva. Die Rahmentrommel hat es aus der arabisch-andalusischen Musik über Portugal bis nach Brasilien geschafft, ein schönes Beispiel für kulturelle Weitergabe und Wertschätzung.
Auf das mit Stilsicherheit aus dem Ärmel geschüttelte „Eu Vou Ser Como A Toupeira“ ließ Afonso 1973 ein aufwendiges, breitwandiges Folk-Kaleidoskop folgen: „Venham Mais Cinco“, aufgenommen in Paris, ist die letzte unter der Diktatur veröffentlichte Platte Afonsos. „Noch eine Runde“ ist die deutsche Übersetzung des Albumtitels, auf dem Cover will sich eine altertümlich wirkende Adelsrunde über ein Bankett hermachen. Der Teller in ihrer Mitte ist bereits leer, nur noch Krug und Becher geben etwas her.
Kunstwerke in jeder Hinsicht
Afonso-Alben sind visuelle und durch Prägedruck auch haptische Kunstwerke. Im Zuge ihrer Wiederveröffentlichung ist zusätzlich auch ein Buch mit den Covern des Künstlers José Santa-Bárbara entstanden. „Venham Mais Cinco“ gehört mit „Cantigas Do Maio“, das „Grândola, Vila Morena“ enthält, und „Coro Dos Tribunais“ von 1974 zu dem von Nuno Saraivo erwähnten Nummer-eins-Trio, die seit 2022 in die Charts kamen.
Im Jahr 1976 erschien „Com As Minhas Tamanquinhas“ und darauf einer der politisch explizitesten Momente José Afonsos: „Os Fantoches De Kissinger“ sind „Die Marionetten Kissingers“. Eine von ihnen putschte und regierte seit 1973 in Santiago de Chile, der Name lautete Augusto Pinochet.
Auch Helena Afonso betont: Ihr Vater war kein Agitator. Sie zitiert ihn mit den Sätzen: „Ich bin ein politischer Mensch, kein Politiker“ und „Ich mische mich ein“. Die zum Teil aus Bühnenmusiken zu geistes- und haltungsverwandten Autoren wie Bertolt Brecht kompilierten Alben „Enquanto Há Força“ (1978) und „Fura Fura“ (1979) erlaubten Afonso Freiheiten, die sogar über das Format eines Konzeptalbums hinausgingen.
Fado, vom Kopf auf die Füße gestellt
Im Jahr 1981 dann erschien „Fados De Coimbra E Outras Canções“, die vorerst letzte Veröffentlichung in Saraivas Reihe: Die Plattenfirma hatte sich von Afonso ein Album gewünscht, auf dem er zum Musikstil seiner Anfänge zurückkehrt. Sie bekam zweimal fünf Lieder, in denen Afonso mit Rückgriff auf die Fado-Legende Edmundo de Bettencourt eine ehrwürdige portugiesische Tradition vom Kopf auf die Füße stellte.
Der Schicksalsergebenheit des Fado, derer sich die Diktatur bedient hatte, stellte Afonso die Unruhe, „Inquietação“, entgegen. „Fados De Coimbra E Outras Canções“ gehört in den Kanon jener Musik, die Introspektion und Revolution nicht ausschließt.
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