Werkausgabe für Hermann Borchardt: Ein abgründiger Provokateur
Für Brecht war er der größte lebende Satiriker in deutscher Sprache. Nun kann er wieder entdeckt werden: der Schriftsteller Hermann Borchardt.
„Lass uns das Kriegsbeil begraben!“ Dieser sprechende Titel des Briefwechsels der Freunde George Grosz und Hermann Borchardt bildete 2019 die 500-seitige Ouvertüre der auf fünf Bände geplanten Werkausgabe zu Hermann Borchardt.
Eine Auswahl autobiografischer Schriften liegt nun als erster Band vor und speist sich vornehmlich aus dem im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main bewahrten Nachlass Borchardts. Seine Lebensstationen lauteten: Berlin, Paris, Minsk, Sachsenhausen, Esterwegen, Dachau, New York. Wie passt das zusammen?
Der zum Auftakt abgedruckte Text „Der Club der Harmlosen. Wahre Geschichte meines Lebens“ erweist sich als trügerisches Versprechen. Die versprochene Selbstauskunft bleibt uneingelöst. Der Ich-Erzähler entzieht sich dem neugierigen Leser zugunsten eines romanhaften Geschehens im wilhelminischen Berlin, das kaum mit dem wahren Leben des Autors in Verbindung gebracht werden kann.
Zumindest gesteht Borchardt seinen Lesern vorab: „Auch muß ich diejenigen enttäuschen, die viel von meiner Person wissen wollen; aber ich habe zu wenig selbst erlebt, meistens nur dabeigestanden, wenn etwas erlebt wurde, bis zu meinem sechsundvierzigsten Jahr, als die Geheime Staatspolizei mich in’s Konzentrationslager schaffte.“
„Tägliche Anzapfungen“
Doch der Reihe nach: Der 1888 in Berlin geborene Hermann Joelsohn arbeitete nach seinem mit Promotion abgeschlossenen Studium als Lehrer für Latein, Deutsch und Geschichte an Gymnasien in Berlin. Ganz offensichtlich ein Brotberuf, denn wie Borchardt sagte: „Studienrat bin ich nicht aus Einsicht oder Passion geworden, sondern weil in der Inflation unser Vermögen dahinschwand.“
Hermann Borchardt Werke. Band 1: „Autobiographische Schriften“. Hrsg. v. H. Haarmann, Ch. Hesse und L. Laier. Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 359 S., 34,90 Euro
Bis 1925 behält er den jüdischen Familiennamen seines Vaters, nahm dann wegen des spürbaren Antisemitismus (Borchardt spricht von „täglichen Anzapfungen“) den Familiennamen seiner Mutter an.
Borchardts Verhältnis zur eigenen jüdischen Herkunft ist eher schwierig. Als er im Frühjahr 1934 über die Möglichkeiten einer Emigration in die USA und über Unterstützungszahlungen durch ein jüdisches Hilfskomitee nachdachte, schrieb er an George Grosz: „Ich werde stumm, wenn ich über mein Schlemihltum nachdenke.“
Ein Jahr zuvor war Borchardt von Grosz ironisch „als jüdischer Staatsbürger deutschen Glaubens“ bezeichnet worden. Von einem Lehrerkollegen wurde Borchardt wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe denunziert.
Kein Emigrantengemauschel
Er floh zunächst allein über die Tschechoslowakei und die Schweiz nach Paris, wohin ihm seine Frau mit den beiden Kindern folgte. Auch wenn er die Cafès der Emigranten mied, das „Emigrantengemauschel“ nicht hören wollte, war Borchardt vom französischen Exil durchaus fasziniert: „Ich bin hingerissen, noch immer … von den kaufenden, genießenden Menschen, der Apéritifs, dem Klappern der Billards … Ich verstand kein Französisch, niemand nahm es übel. Universitätsprofessoren luden mich ein … erkundigten sich nach Hitler wie nach der sagenhaften Seeschlange von Loch Neß, und gibt es irgendwo auf der Welt eine herzlichere Straße als die Seineufer von St. Michel …“
Trotz dieser Begeisterung entschied er sich gegen eine Anstellung in Dijon, aber im Januar 1934 für eine Professur für deutsche Sprache in Minsk. Erstaunlich. Borchardt war durch Grosz Mitte der zwanziger Jahre mit Schriftstellern und Künstlern wie Wieland Herzfelde, John Heartfield, Walter Mehring in Verbindung gekommen. Einige Monate war er auch Mitglied der KPD. Seit 1924 veröffentlichte er in der parteinahen Satirezeitschrift Der Knüppel literarische Texte und Spottgedichte.
Mitte der Zwanzigerjahre entfremdeten sich Borchardt wie Grosz zusehends von der Partei und ihren Doktrinen. Borchardt im Jahr 1927 an Grosz: „Die Marxisten sind Dummköpfe, lieber Böff.“ Er wandte sich entschieden gegen die „Massenbezüngler und die, die vor Gesinnung sich selbst nicht mehr kennen, weil ihnen ihre Maske festgewachsen ist wie Herz und Haut“.
Dass er sich gleichwohl zur Übersiedelung in die Sowjetunion entschloss und dort eine Stellung als Sprachlehrer antrat, lässt sich vermutlich nur mit der bescheidenen Situation im französischen Exil sowie der adäquaten beruflichen Perspektive in Minsk erklären. Kurz vor seiner Abreise nach Weißrussland schrieb er an Grosz, er begebe sich in „pauvreté, Kälte, Verstellung und Maulhalten: alles Sachen, die ich so gut leiden kann“.
Erstmal für ein deutsches Lesepublikum
Es kann kaum verwundern, dass Borchardts Aufenthalt in der von ihm ironisch als „Arbeiterparadies“ bezeichneten Sowjetunion nur zwei Jahre währte. Unter der Überschrift „Ich lehre Deutsch in Minsk“ versammeln die Herausgeber vornehmlich im amerikanischen Exil veröffentlichte Texte Borchardts, die nun erstmals ein deutsches Lesepublikum erreichen. Ähnlich wie André Gide und gänzlich anders als der beschönigende Lion Feuchtwanger schilderte Borchardt die trüben Lebensverhältnisse fern von Moskau.
Aus seinen Texten spricht der Widerwille gegen politische Kontrolle, politische Dreinrede und pädagogische Bevormundung. Als er sich weigerte, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde er unter dem Vorwurf konterrevolutionärer Agitation im Januar 1936 des Landes verwiesen. In seiner Hilflosigkeit suchte das Ehepaar Borchardt, nach nationalsozialistischer Terminologie eine „Mischehe“, Zuflucht in Deutschland.
Desillusioniert kehrte Borchardt zurück, es sei aus ihm „kein aufbaufreudiger Sowjetmensch“ geworden, wie er an Grosz schrieb. Die zwei Jahre in Minsk hätten, „was ich in meiner Jugend und bis 1933 noch für möglich und wünschbar gehalten habe, nach und nach bis auf den Rest verschüttet.“
Borchardts „Lehrjahre“ waren mit der Rückkehr nach Deutschland keineswegs beendet. Auch wenn Borchardt dank seines Namens sein Judentum unsichtbar gemacht hatte, stand er als ein aus dem sowjetischen Exil Zurückgekehrter sofort unter polizeilicher Beobachtung und wurde im Juli 1936 verhaftet. Unter der Überschrift „Ein Jahr meines Lebens“ fassen die Herausgeber von Borchardt gesammelte „Lagerbuch-Fragmente“ zusammen, die seinen erzwungenen Aufenthalt in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Esterwegen und Dachau schildern.
Nüchterne Beschreibung der Lagerrealität
Erlebnisse, die, wie Borchardt schrieb, ohne „romantische Beleuchtung“ auskommen, wie sie in bekannter Lagerliteratur, zum Beispiel Willi Bredels Roman „Die Prüfung“ vorkommt und die insbesondere kommunistische Lagergemeinschaft heroisierte. Borchardt beeindruckt durch Nüchternheit in der Beschreibung der Lagerrealität, der menschenverachtenden Brutalität der SS-Bewacher.
Borchardt beschreibt die vulgäre wie bedrohliche Befragung durch die SS, die tägliche Drangsalierung und Willkür gegenüber den Gefangenen, kulminierend in angedrohten wie vollzogenen Prügelstrafen.
Halsschnürend liest sich Borchardts Text: „Ich grabe mein Grab.“ Im fernen New York schrieb Grosz: „Menschlich auch einer dieser Grenzfälle, die nicht in die amtlichen Korrespondenzen und behördlich genehmigten Ansichten passen. Der Mann, dem die ‚Wahrheit‘ das liebste Hobby war – und nun dafür bezahlt. Erst fliegt er aus dem freiesten Arbeetaparadies raus, und dann, in der freiesten Diktatur, wird er ins Konzentrationslager gesperrt.“
Es waren Eva und George Grosz, die für Borchardt ein Affidavit für die Einreise in die USA besorgten, der Hilfsverein deutscher Juden zahlte die Schiffspassage. Im Mai 1937 aus der Haft entlassen, erreichte Borchardt mit Familie einen Monat später New York.
Es ist ein Verdienst der Herausgeber dieser Werkausgabe, dass ein schon zu Lebzeiten weitgehend unbekannter, nach seinem Tod 1951 fast völlig in Vergessenheit geratener Schriftsteller nunmehr kenntnisreich vorgestellt wird. Kritische Leser mögen prüfen, ob sie Bertolt Brecht zustimmen, der urteilte, Borchardt sei „bösartig wie viele moralisten, ein abgründiger provokateur, übertreiber von beruf als satiriker.“ Mit Spannung darf man auf die weiteren Bände dieser literarischen Neuentdeckung warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!