: WennderZahnarztklingelt
Volkmar Göbel wollte nicht mehr mit ansehen, dass sich niemand um die Zahnleiden älterer Menschen kümmert. Deswegen kommt er zu ihnen
Aus Gössenheim Henrike Hartmann
Für die meisten Zahnärzte, sagt er, höre die Zahnmedizin jenseits der Kiefergelenke auf. Aber nicht für ihn. Er will vor allem eines: die Menschen verstehen. Die Menschen hinter den Zähnen. Anders würde er auch nicht weit kommen bei seinen Patientinnen und Patienten. Bei ihnen müsse man Brücken bauen – und damit sind nicht nur die im Gebiss gemeint.
Da gab es diese Patientin in Mannheim, die 220 Kilo wog und dringend eine Zahnbehandlung brauchte. Jede Zahnklinik im Umland habe die Behandlung abgelehnt, da sie die Patientin mit einem Kran in den Krankenwagen hätten transportieren müssen.
Volkmar Göbel konnte sie vor Ort behandeln, in ihrem eigenen Zimmer.
Vor Jahren hat sich Göbel etwas in den Kopf gesetzt: Die zahnärztliche Versorgung für Menschen, die nicht mehr rauskommen, muss besser werden, vielleicht sogar ganz neu gedacht. Göbel hatte diese Idee: Was, wenn die alten Leute nicht mehr in die Zahnarztpraxis kommen müssen, sondern die Zahnarztpraxis zu ihnen?
Den Menschen, die er behandelt, bleibt oft nicht viel mehr im Leben als das Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, vielleicht noch das Stück Kuchen am Nachmittag. Sie leben auf wenigen Quadratmetern, manchmal ist es nur noch das Bett.
Wenn der körperliche Verfall nicht mehr aufzuhalten ist, dann kommt es auf die Zähne auch nicht mehr an, denken manche. Dann muss man ja nicht mehr darauf pochen, dass die Oma, die im Altersheim sitzt, brav halbjährlich zum Zahnarzt geht. Wo sie doch sowieso nicht mehr laufen kann. Aber was bleibt dann überhaupt noch, wenn nicht mal die Zähne funktionieren?
Göbel, 65, ein großer Mann in weißer Hose und blauer Arbeitsjacke, tritt aus seiner Zahnarztpraxis im unterfränkischen Gössenheim, unweit von Würzburg. Auf dem Hof stehen vier Autos mit dem Aufdruck „Dentagil“: Göbels Zahnarztflotte. Im Umkreis von 80 Kilometern betreut sein Team rund 3.300 Patientinnen und Patienten mit dem Zahnarztmobil. In Karlsruhe, Köln und Lünen gibt es bereits andere Praxen, die nach Göbels Konzept arbeiten, viele weitere haben sich dafür beworben – Göbel hat seine Idee an ein Medizinunternehmen verkauft, das jetzt die Expansion managt.
Volkmar Göbel nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Die Hinfahrt überlasse er „seinen Damen“, den zahnmedizinischen Fachangestellten. Heute am Steuer: Franziska Schmitt. Bevor sie losfährt, reicht sie ihrem Chef einen Zettel in Klarsichtfolie: den heutigen Zeitplan. Start: jetzt, 8.30 Uhr. Heimfahrt: 13.30 Uhr. Der Tag ist minutiös durchgetaktet. 15 Patienten in fünf Senioreneinrichtungen, dazu rund 100 Kilometer Fahrstrecke. Macht maximal 15 Minuten für jeden Patienten.
Über hügelige Landschaften und die Autobahn A 7 führt der Weg rund 42 Kilometer nach Bad Brückenau – zum ersten Seniorenzentrum. „Göbel ist mein Name“, ruft der Zahnarzt dem Mann entgegen, der im Rollstuhl herbeigeschoben wird. Er trägt eine Schnur um den Hals, daran ein Anhänger mit der Nummer 308. Ein Demenzpatient, 77 Jahre alt. Es ist sein erster Termin bei Volkmar Göbel.
„Was können Sie zu Ihren Zähnen sagen, funktioniert alles im Mund?“ Der Patient nickt. Göbel zieht sich Latexhandschuhe über und knipst seine Kopflampe an. Er sperrt dem Mann mit seinen Fingern den Mund auf, entfernt die Oberkieferprothese, darunter nur noch Stummel von Zähnen und Goldplomben. „Und die untere Prothese? Wo ist die?“
„Die haben sie verschlampt“, murmelt der Patient. Hier im Heim nehme man den Bewohnern abends die Prothesen ab, irgendwann sei sie morgens einfach weg gewesen.
Göbel fragt: „Seit wann ist das schon so?“ „Halbes Jahr, drei viertel Jahr.“
Ein alter Mann, der über ein halbes Jahr ohne seine zweite Prothese zurechtkommen muss. Göbel begegnen solche Fälle ständig.
Da gab es dieses Erlebnis, das ihn vor vielen Jahren überhaupt auf die Idee gebracht hat, sich der Zahnleiden alter Menschen anzunehmen. Es dürfte etwa 2005 gewesen sein, erzählt Göbel, als er seine demente Großmutter im Pflegeheim besuchte und feststellte, dass ihre Oberkieferprothese gebrochen war. Tagelang habe sie nicht richtig essen können. Und das Schlimmste: Niemand im Heim habe sich darum gekümmert.
Die Prothese seiner Großmutter nahm er mit und ließ sie in seinem Labor reparieren – „in einem Tag war das erledigt“. Aber er wusste ja, dass das Problem größer war: dass die zahnärztliche Versorgung in all den Heimen einfach nicht mitgedacht wird und die alten Leute selbst sehen müssen, wie sie zum Zahnarzt kommen. Also bildete er sich in Sachen Alterszahnheilkunde fort und fing an, an seinem mobilen Behandlungskonzept zu tüfteln.
Was sich Göbel da ausgedacht hatte, war von Anfang an eine logistische Herausforderung. Als Zahnarzt auf Rädern wollte er die Alterszahnheilkunde revolutionieren. Aber erst mal musste er die Technik auf die Räder bekommen. Am schwierigsten sei es gewesen, an mobile Röntgengeräte zu kommen. Da es so was auf dem deutschen Markt damals noch nicht gab, habe er welche aus Südkorea beschafft, kaum größer als ein Fotoapparat.
Und tatsächlich – wenn Göbel die Altenheime besucht, dann mit erstaunlich wenig Gepäck: zwei Koffer mit ein bisschen Besteck, ein Lesegerät für Krankenkassenkarten und Laptop.
Im nächsten Heim angekommen, stellt er seine Koffer auf den gefliesten Boden des Pflegebads. Eine gekrümmte Frau mit Rollator betritt den Raum, die Pflegerin führt sie an der Hand. „Aua“, stöhnt die Frau, „aua, aua“. Göbel hilft ihr auf den Plastikstuhl: „Kommen Sie rein zu mir, hier steht ein Stuhl und da setzen Sie sich hin!“
„Zahnpflege ist seit eineinhalb Wochen gar nicht möglich“, sagt die Pflegerin. So groß seien die Schmerzen. Göbel nimmt die Hand der Patientin. „Wir schaffen das“, sagt er. Als er sich ihrem Mund nähern will, dreht sie ihren Kopf ruckartig weg. Die Pflegerin hält ihn fest.
Mit der Kopflampe leuchtet Göbel in ihren Mund, spricht beruhigend auf sie ein: „Wunderbar“, „sehr, sehr gut“, „ich bin gleich fertig mit Gucken“. Die Patientin atmet angespannt ein und aus.
„Der Punkt ist“, sagt Göbel schließlich, „wir haben immer gesagt, dass wir erst eingreifen, wenn es nicht mehr anders geht. Jetzt ist es so weit.“ Die Zähne müssen raus. Göbel stellt eine Überweisung für den Kieferchirurgen aus.
Mit einem Ruck hilft er der Frau auf die Beine. Sie fängt an zu stammeln: „Ich – bleibe – dir – treu.“ Göbel nickt. „Ja, ich bleibe dir treu, das weiß ich doch.“
Er winkt ihr nach.
„Wir müssen uns auch um diesen Teil der Bevölkerung kümmern“, sagt Göbel. Als Zahnarzt unterliegt er dem sogenannten Sicherstellungsauftrag: Alle versicherten Patienten müssen versorgt werden. „Ob diese Patienten in der Lage sind, eine Praxis aufzusuchen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.“
Doch er und sein Team können, sagt Göbel, nur so viel tun wie eben möglich. Auch er habe mit Fachkräftemangel zu kämpfen. Und sowieso würden die Pauschalen für die weiten Strecken, die er zurücklegt, nicht ausreichen: „Betriebswirtschaftlich ist diese mobile Alterszahnheilkunde nur dann, wenn sie entsprechend organisiert ist.“ Also wenn er in einem Rutsch möglichst viele Heime anfährt.
Nächster Halt: eine gerontopsychiatrische Einrichtung, ein paar Kilometer weiter. Eine Pflegerin führt Göbel zur Zimmertür des Patienten. „Der Zahnarzt ist da“, ruft sie, klopft und öffnet die Tür. Der Mann liegt zusammengekrümmt in seinem Bett. „Zahnarzt? Will ich nicht“, antwortet er. Sein Zimmer riecht nach Zigaretten, die Vorhänge sind zugezogen. In Göbels Patientenkartei ist notiert: 67 Jahre, starker Raucher, Schlaganfall.
„Grüß Gott, mein Name ist Göbel. Ich bin der Zahnarzt, und Sie sind wer? Wie klappt’s mit dem Essen? Haben Sie Prothesen?“ Der Mann krächzt: „Ja.“
Göbel will ihm in den Mund sehen. „Sie können auch liegen bleiben, das geht wunderbar so. Machen Sie mal ganz weit auf.“ Der Mann spreizt seine Finger, während Göbel in seinen Mund leuchtet.
„Viele weiche Beläge, massive Gingivitis, Zahnstein“, stellt Göbel fest. An den Fingerspitzen seiner Handschuhe haftet Plaque, das er von den Zähnen des Mannes gekratzt hat.
„Mit dem Zähneputzen haben Sie es aber nicht so, oder?“ Der Patient antwortet: „Nee.“ „Warum nicht?“, fragt Göbel weiter. „Brauch wa net“, sagt der Patient.
Göbel zieht seine Handschuhe aus: „Okay, dann werden Sie Ihre Zähne verlieren.“ Seine Assistentin tippt in den Laptop: „Patient an Mundhygiene nicht interessiert.“
Draußen auf dem Gang sagt er: „Manche Menschen werde ich nie motivieren können, das muss ich akzeptieren“. Selbst wenn eine Behandlung dringend erforderlich wäre: Wenn der Patient nicht will, könne er nichts tun. Schließlich garantiert Artikel 2 des Grundgesetzes das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Eine Lehre aus den Euthanasie-Morden der Nazizeit. Jeder medizinische Eingriff gilt als geduldete Körperverletzung. Ob ein Körper einer Behandlung bedarf, unterliegt ausschließlich der Selbstbestimmung der Patienten.
Auf dem Weg zum letzten Halt übernimmt Göbel das Steuer. Forciert rauscht er über die Autobahn, auf den Landstraßen wird eifrig überholt.
Am Ende ist er eine Stunde früher durch als geplant. Praktisch, denn in seiner Praxis warten schon die nächsten Patientinnen und Patienten auf ihn. Und Krapfen, mit Puderzucker und Aprikosenkonfitüre. Denn, sagt Göbel: „Wir arbeiten nicht nur fleißig, wir genießen auch fleißig.“
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