: Wenn Hass zur Tugend wird
Manche Progressive feierten das Massaker vom 7. Oktober und rechtfertigten das Ermorden israelischer Zivilist*innen. Warum? Eva Illouz und Adam Kirsch versuchen in ihren Büchern Antworten zu geben

Von Ulrich Gutmair
Wer Instagram nutzt oder sich über Kanäle wie X oder Telegram informiert, wurde am 7. Oktober 2023 Zeuge eines Dammbruchs. Die Hamas überschwemmte diese Kanäle mit Videos, die ihre „Kämpfer“ beim Ermorden und Verschleppen von israelischen Zivilisten, von Alten, Kindern, Frauen und Männern, zeigten. Es waren Filme, die von den Tätern live übertragen oder kurz nach den Taten hochgeladen wurden. So schwer erträglich diese Filme waren, die das lustvolle Morden zeigten, so euphorisierend wirkten sie ganz offenkundig auf Teile einer „globalen Linken“.
Ungezählte Technomusikerinnen, Performancekünstler, linke, queere und feministische Aktivist*innen bejubelten das genozidale Massaker auf ihren Social-Media-Profilen als „Widerstand“. „Soweit ich mich daran erinnern kann, hat kein anderes Massaker – ob im Südsudan oder im Kongo, in Äthiopien, Sri Lanka, Syrien oder der Ukraine – im Westen und in islamischen Ländern so viele Menschen glücklich gemacht“, konstatiert Eva Illouz in ihrem eben erschienenen Essay „Der 8. Oktober“.
Die Welt wäre eine bessere, wenn man diesen Satz als Polemik klassifizieren könnte. Er ist aber leider wahr. Den Fakt zu verleugnen, zu verschweigen oder zu verdrängen, weil er nicht ins Bild passt, wird nicht helfen.
Es sollte bereits klar geworden sein, dass Illouz kein Buch über den Krieg in Gaza geschrieben hat, der katastrophale Ausmaße angenommen hat. Er bringt jeden Tag neues Leid, Hunger und Tod über die Menschen in Gaza und wird durch die ultrarechte Regierung Netanjahu dieser Tage noch eskaliert, obwohl weder die überwältigende Mehrheit der Israelis das will, noch die Militärführung des Lands irgendeinen Sinn darin erkennen kann.
Illouz’ Buch stellt die einfache, aber nicht leicht zu beantwortende Frage: Wie ist es so weit gekommen, dass Progressive ein Massaker an Juden feiern? Sie will verstehen, warum, um zwei ihrer Beispiele zu nennen, Joseph Massad, Professor an der New Yorker Columbia University, das Massaker vom 7. Oktober als „innovativ“ und „eindrucksvoll“ beschrieb oder Russell Rickford von der Universität Cornell sich davon „begeistert“ zeigte.
Warum meinen Leute, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, wenn sie Vergewaltigungen und den Mord an Zivilisten als nicht nur gerechtfertigte, sondern gebotene Taten preisen, mit denen Gerechtigkeit hergestellt worden sei?
Illouz hält fest, dass die Politik einer bestimmten identitären Linken sich an diesem 7. Oktober einmal mehr als quasireligiöse Weltsicht gezeigt hat, die ihren Adepten eine Heilsmission einflöße und das radikal Böse mit Israel identifiziere. „Die zeitgenössischen Progressiven“ fühlten sich daher berufen, die Welt vom Staat Israel zu befreien. Dass viele Progressive so denken, ist nicht zu bestreiten. Illouz tut ihrer Kritik aber keinen Gefallen, wenn sie den bestimmten Artikel benutzt. Es sind nicht „die“ Progressiven, es sind zu viele. Es sind identitäre, autoritäre Linke, die Komplexität nicht aushalten oder gar denken können.
Illouz weist darauf hin, dass die israelische Besatzung des Westjordanlands, die Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten, die Überheblichkeit Netanjahus und die Instrumentalisierung des Holocausts, um Kritiker:innen Israels zum Schweigen zu bringen, „nicht ohne Einfluss“ sei „auf die Feindseligkeit gegenüber dem Land, die Distanzierung von seiner Bevölkerung und die Zuschreibung von Macht und Verschulden“. Damit lasse sich aber ihre Frage nicht ausreichend beantworten.
Exportschlager Antizionismus
Die Soziologin legt ein Bündel von Ursachen dar, die allesamt bedenkenswert sind, von denen manche aber deutlich überzeugender als andere erscheinen. Illouz verweist richtig auf das lange Nachwirken des von Stalin erfundenen und unter Breschnew propagandistisch weiterentwickelten sowjetischen Exportschlagers Antizionismus, den panarabische und islamistische Vordenker begierig aufgegriffen haben.
Diese waren auch stark von der antisemitischen NS-Propaganda beeinflusst. Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft in Ägypten gründete, bewunderte Hitler und übersetzte „Mein Kampf“ mit „Mein Dschihad“. Die Muslimbruderschaft ist heute an Hunderten US-amerikanischen Universitäten aktiv, um ihre antiliberale Ideologie zu verbreiten. Antiimperialistisches und antikapitalistisches Vokabular wird vom Islamistenregime in Iran und von sunnitischen Dschihadisten wie al-Qaida benutzt.
Eva Illouz: „Der 8. Oktober“. Suhrkamp, Berlin 2025, 103 Seiten, 12 Euro
Als „Hauptverdächtige“ gelten Illouz aber die Geisteswissenschaften, genauer der „Denkstil“ der „French Theory“, der sie zugesteht, „eine nachvollziehbare, ja sogar heilsame Reaktion auf die mörderischen kolonialen Unternehmungen Europas und die imperialistischen Abenteuer der Vereinigten Staaten“ gewesen zu sein.
Illouz geht es nicht darum, die Werke der Denker der „Theorie“ unter Generalverdacht zu stellen, sondern deren „vereinfachende und grob einseitige Instrumentalisierung“, wozu sie die Verallgemeinerung des Begriffs der Macht in einer Welt zählt, die als Text begriffen wird. Ihre Kritik bleibt aber abstrakt und überzeugt nicht, sodass dem Leser am Ende nur die Erkenntnis bleibt: Je länger Theorien wirksam sind, desto häufiger kommt es vor, dass nicht so kluge Leute ihr Unvermögen in sie kleiden.
Wer nach dem 7. Oktober die auf Instagram den Terror Feiernden fragte, wie man das Ermorden von Babys als Widerstand bezeichnen kann, bekam häufig die lapidare Antwort, die Ermordeten seien keine Babys, sondern „settler colonialists“, also „Siedlerkolonialisten“. Wenig erstaunlich daher, dass sich Illouz auch den Theorien der Dekolonialität und der Lehre vom Siedlerkolonialismus widmet.
Letzterer ist Gegenstand einer nüchternen, ohne Zorn und Eifer verfassten Analyse von Adam Kirsch, die eine sehr gute Ergänzung zu Illouz darstellt. Kirsch zeichnet in „Siedlerkolonialismus“ nach, wie aus Kenneth Goods Analyse afrikanischer Kolonialstaaten, in der wenige Kolonialisten eine große Mehrheit unterdrückten und ausbeuteten, eine heute an vielen US-amerikanischen Universitäten gelehrte Ideologie entstand, in der „politische Kämpfe zu symbolischen Kämpfen zwischen Licht und Dunkelheit“ werden und Israel wider alle Fakten als der paradigmatische Kolonialstaat erscheint.
Adam Kirsch: „Siedlerkolonialismus“. Edition Tiamat, Berlin 2025, 200 Seiten, 24 Euro
Kirsch kritisiert das philosophisch wie historisch fragwürdige Konstrukt der „Indigenität“ und kann mittels vieler Zitate überzeugend darlegen, dass es der Ideologie des Siedlerkolonialismus nicht gelingt – und auch gar nicht gelingen will –, sich eine dekoloniale Zukunft vorzustellen. Da verwundert es nicht, wenn er ihr eine verblüffende Ähnlichkeit mit der calvinistischen Prädestinationslehre attestiert. Ramón Grosfoguel, einer der Denker der dekolonialen Theorie, bezeichnete die Zeit nach dem 7. Oktober als einen „zutiefst spirituellen und messianischen Moment“ und hoffte: „Der palästinensische Sieg wird die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsebene führen.“
Kirschs Antwort auf die Frage von Illouz lautet daher: „Junge Menschen, die heute das Massaker an Israelis feiern, schämen sich aus demselben Grund nicht, aus dem frühere Generationen sich nicht schämten, Juden zu verfolgen und zu töten – weil ihnen beigebracht wurde, dass dies ein Ausdruck von Tugend sei.“
Einen „tugendhaften Antisemitismus“ sieht auch Illouz am Werk. Der Antizionismus, „die intellektuell respektable Version des Antisemitismus“, verhelfe zu kognitivem und identitärem Trost. Zu mehr Gerechtigkeit wird er nicht führen. So schreibt Illouz am Ende ihres Essays richtig: „Man verteidigt die Palästinenser nicht besser, indem man sich tugendhaft gebenden Hass auf Israel an den Tag legt. Und Israel zu verteidigen heißt nicht, vom Kampf für die Rechte der Palästinenser abzulassen.“
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