piwik no script img

Weinkater und die StadtEndstation „Zum Langen Jammer“

Das Kiezleben in Berlin verändert sich, Stück für Stück. Das Wochenende ist eine gute Gelegenheit, darauf einen Blick zu werfen.

Wohin Wege führen können Foto: Ehmi Bleßmann

D iesen Samstagabend entwickelt sich, das ist nichts allzu Ungewöhnliches, die Schwere unserer Gesprächsthemen parallel zum Weinkonsum hin zu einer Klimax. Wer hat ein Date am Valentinstag? Geht’s euch gut? Welches Gewächs ist man laut keltischem Baumhoroskop? Und weiter: Ziehen wir irgendwann raus aus Berlin? Wo ist die Welt denn in Ordnung? Ab welchem Preis drohen Ideale käuflich zu werden?

Ich habe kein Date am Valentinstag. Und ich bin eine Zypresse. Auf die anderen Fragen habe ich keine Antworten, aber ich rede trotzdem die ganze Zeit irgendetwas.

Der Ringbahnwaggon, der mich nach Hause bringt, dient einer Gruppe Jugendlicher zum Transport einer klirrenden Ration von Kaltgetränken, für die wohl sehr viel Taschengeld dran glauben musste. Einer der Jungs schlendert zu mir, um nach Filtern zum Zigarettendrehen zu fragen.

Weil drei Uhr morgens keine angenehme Uhrzeit für gut gemeinte Moralpredigten ist, schütte ich ihm einfach die Hälfte meiner Packung in die Hände. „Oh, wie toll!“, strahlt er mich freundlich an. Es tut mir leid, dass er und seine Freunde morgen tierische Kopfschmerzen haben werden.

„Du bist eine Amateurin“, geht es mir an besagtem nächstem Morgen durch den Kopf, als ich selbst welche zu beklagen habe. Raus, frische Luft, Sonne abholen. Sonntag ist traditionell Flohmarkttag. Auch am Boxhagener Platz, zu dem mich meine Suche nach einem Kaffee führt. Hier haben sich viele Menschen zwischen überquellenden Essenständen, aufeinandergestapelten Möbeln, Blumenkästen und mit Töpfergeschirr beladenen Tischen zum Gucken und Kaufen verabredet.

Sie sehen auf eine seltsame Art und Weise gleichzeitig sehr gut und sehr ähnlich aus. Man könnte deshalb meinen, aus Versehen auf einer Open-Air-Modenschau gelandet zu sein, würden nicht in kurzen Zeitabschnitten die Schnäppchen des Tages verrufen werden.

Leider ist meine Zündschnur, die zwischen Entspannung und Ungeduld verläuft, heute kürzer als gedacht. Mit 0,02km/h durch die Menschenmasse zu trotten ist daher das Beste, wogegen ich mich heute entscheiden kann, um mir nicht die Laune zu vermiesen, denke ich.

Durch einen Korridor von Trödlern quetsche ich mich auf einen umliegenden Gehweg, ich lande vor einer neuen Bäckerei. Die Fensterrahmen sind frisch lackiert, die Scheibe weist keine Spur eines Kratzers auf. Seit der pandemischen Notlage sind viele altbekannte Läden Neueröffnungen wie dieser gewichen. Mein Blick verfängt sich an der Angebotskarte, die am untersten Ende der bloß siebenstelligen Auflistung selbstbewusst „Brötchen – 1“ ausschildert. Ein Euro – für ein Brötchen, ernsthaft?

Meine Laune ist nun doch im Keller. Entschlossen, den Rest des Tages abseits von Gewusel umhüllt von einer warmen Decke aus schlechten TV-Formaten zu verbringen, bemühe ich mich um die Rekonstruktion des gestrigen Gesprächsteils über alternative Wohnorte. War da etwas Gutes dabei?

Die Frage nach dem Weg, den diese Stadt einschlägt, pocht in meinem Kopf. Und dann muss ich an ein Straßenschild aus dem Nordkiez Friedrichhains denken.

Denn unweit von hier gibt es eine Wohngegend, die mit einschläfernd gleich aussehenden Linien von Reihenhäusern asphaltiert ist. Ihre Fassaden sind in einer beschämenden Farbauswahl aus dem unspektakulären Spektrum zwischen Weiß und Hellgrau getönt. Einmal habe ich dort eine glatt gekämmte Katze in den minimalistischen Vorgärten auf Fliegenjagd gehen sehen. Etwas Spannenderes kann ich über diesen Ort nicht berichten, aber vielleicht wissen Sie ja mehr.

Jedenfalls, inmitten dieser Anreihungen von baukastenähnlichen Neubaufronten gibt es eine kleine Straße, die heißt „Zum Langen Jammer“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Allet schön, allet wird jut!



    Eine glatt gekämmte Katze.. Dit is sehr schön geschrieben.



    Meine ganzen, vergangenen Leben, immer diese Frage! .. Ziehen wir irgendwann raus aus Berlin?..



    Alpha und Omega.



    Alpha 78 BTW Börlin-Omega 22 PHP Börlin. Mit vielen Zwischenstationen inne Stadt.(Gleim war jut, manno, direkt, hinterm Kino und Krustastube,Kaffee Nord, ville jünger)



    Ich schweife ab.



    Nach der Nachtschicht über oder durch- Den langen Jammer- hinten Stufen runter und rinn ins Eisbeineck mit dem Kollektiv.(Alle Helden der sozialistischen Arbeit und totale Planerfüller!)



    www.ddr-museum.de/de/objects/1021315



    Heute würde ich die Stufen schlechter.. runterkommen geschweige wieder hoch.(Das Eisbein!)



    .....Direkt über dem Schlachthof hatte die Brücke nur Milchglasscheiben, um den Reisenden das blutige Drama unter sich optisch zu ersparen. Das Quieken der Schweine in Todesangst hörte man trotz­dem. Als Fußgänger hatte man immer ein leicht mulmiges Gefühl im Bauch, … der Weg zog sich und gerade abends in halbdunkler Beleuchtung schallten oft ferne Schritte unheimlich ans eigene Ohr....



    Hier kann ick doch en Buch draus machen. Sofort Nele Neuhaus anrufen.



    Zweiteiler.



    Teil1-Die Untoten des Schlachthofes



    Teil2-War es wirklich Eisbein?(Kleine NR für mich)



    www.prenzlberger-a...nge/langer-jammer/



    Also diese baukastenähnlichen Neubaufronten waren damals spannend.



    www.ddrbildarchiv.de/search.php



    Nun also zum Boxi!



    Das Bild ist für die etwas weiter, entfernten Foris, wejen dem Jefühl füre Stadt(;-))



    www.deutschefototh...roluftbild_0145299



    Zum Boxi gibt es ja Geschichten auch unser Forist Freibeuter hat eine Beziehung zu!



    Ich schaue auf die Zeichen und denke, der Beitrag oben hat was mit dem Schmetterling und seinem Flügelschlag.(für mir!)

    • @Ringelnatz1:

      DerSchmetterlingflattertimmernoch1:



      Ja, ich weis, altersbedingt ;-( mehr!



      .... war einst der staatliche Groß- und Einzel-, Außen- und Binnenhandel der DDR, Zoologica, für Zierfische,



      www.ddr-museum.de/de/objects/1013027



      Kleintiere und den gesamten Bedarf, der mit Haustieren zusammenhängt. Dort gab es das „Goldie“ Hundefutter (darin waren ganze Fellstücke und das Zeugs hat gestunken, wie Hubatz, aber unser Pudel hat es geliebt!), genauso wie das Einstreu für den Goldhamster oder Feuerfische aus der Südsee. ..



      Bitte, die gestrichelte Linie beachten, dit is -Der lange Jammer-!



      www.prenzlberger-a...ie-verlorene-ecke/