Weibliche Genitalverstümmelung: Digitale Gegenwehr
Die Entwicklerin Priya Goswami arbeitet an Apps gegen geschlechtsspezifische Gewalt. „Mumkin“ hilft Opfern weiblicher Genitalverstümmelung.
Es gibt da eine Sache, die die 34-jährige App-Entwicklerin Priya Goswami nicht versteht: „Wieso“, fragt sie, „haben wir inzwischen so fantastische Dinge wie selbstfahrende Autos – aber kaum technologische Innovation gegen geschlechtsspezifische Gewalt?“ Denn der Bedarf wäre ja da: Jede dritte Frau erlebt im Verlauf ihres Lebens eine Form von physischer oder sexualisierter Gewalt, und die Dunkelziffer ist noch einmal größer. Durch die Coronakrise hat sich die Lage noch einmal verschlimmert, UN Women spricht von einer „Schattenpandemie“. Kaum ein Techgigant versucht momentan dieser Pandemie mit Innovation entgegenzutreten. Und auch in der Forschung zu künstlicher Intelligenz, zu Robotik oder Big Data spielt das Thema eher eine untergeordnete Rolle.
Goswami, eine Frau aus Delhi, die heute in Hongkong lebt, ist eine Techvisionärin, die das ändern will. Sie hat keinen Abschluss in Informatik und hat nicht an einer Eliteschmiede wie der Stanford University studiert. Ihr Unternehmen sitzt nicht auf Milliarden, wie Google oder Meta. Priya Goswamis Kapital sieht anders aus: Sie hat gelernt, was es heißt, in dieser Welt eine Frau zu sein. Und die Summe dieser Erfahrungen ist nicht nur entscheidend dafür, welche Technologien Goswami entwickelt, sondern auch, wie sie funktionieren. Ihr Ziel: „Mein Team und ich wollen Überlebende von Gewalt darin unterstützen, endlich Gehör zu finden.“
„Mumkin“ heißt die KI-basierte App, die Priya Goswami entwickelt hat, finanziert mit Unterstützung einer kanadischen NGO. Die App richtet sich an Frauen, die als Mädchen beschnitten wurden und bislang nicht gewagt haben, darüber zu sprechen. Die Überlebenden können mithilfe eines Chatbots Konversationen erproben, für die sie im echten Leben noch nicht bereit sind. Mit dem Avatar einer Mutter zum Beispiel, die dem Ritual einst zustimmte. So sollen die Betroffenen irgendwann den Mut entwickeln, diese Gespräche auch im echten Leben zu führen.
Der Traum von der Intelligenz
Mit mehr als tausend Nutzerinnen in Indien, den USA, Großbritannien und Kanada und einem breiten Medienecho ist die App so erfolgreich, dass Goswami und ihre Mitgründerin Aarefa Johari bald Mumkin 2.0 launchen möchten. Diese neue Version soll sich dann nicht mehr nur an Überlebende von weiblicher Genitalverstümmelung richten, sondern an alle Frauen und Mädchen und auch an intersexuelle oder trans Personen, die Gewalt erfahren haben. Sie alle sollen durch die App Rechtsberatung erhalten und Therapiemöglichkeiten finden. Goswamis Traum: Dass Mumkin irgendwann nicht mehr nur ein Chatbot ist, sondern ein intelligenter Sprachassistent, der mithilfe von Natural Language Processing echte Dialoge führen kann.
Priya Goswami setzt also um, was in der Debatte über innovative Technologien immer wieder gefordert wird: neue Perspektiven in die Entwicklung einzubringen, um eine gerechtere Zukunft für alle zu schaffen. Wissenschaftlerinnen des Forschungsinstituts AI Now an der New York University warnten zum Beispiel schon vor drei Jahren vor einer regelrechten Diversity Crisis in der KI-Forschung hinsichtlich Geschlecht, Herkunft und auch Identität der Mitarbeitenden.
Website vom Netzwerk Women in AI
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt das Weltwirtschaftsforum im Global Gender Gap Report: Eine Kluft zwischen den Geschlechtern sei besonders in den Branchen zu erwarten, die bahnbrechende technologische Fähigkeiten erfordern, also zum Beispiel in den Bereichen KI und Data, Cloud Computing oder im Ingenieurwesen. „Es ist nicht schwer zu erkennen, warum Technologie bis heute eine Männerdomäne ist, denn die Branche vertreibt viele ihrer weiblichen Mitarbeiter“, schreibt das Netzwerk Women in AI auf seiner Webseite. Vor diesem Hintergrund wundert es Priya Goswami nicht, dass das Thema geschlechtsspezifische Gewalt bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien zu kurz kommt.
Schutz durch Technik
Dabei ist die Idee der technologischen Gegenwehr nicht neu. Es gibt Entwürfe für Unterwäsche, die bei gewaltsamem Entfernen ein Notsignal sendet. Strohhalme und Armbänder können inzwischen K.-o.-Tropfen im Glas erkennen. Und Safety-Apps überwachen den Nachhauseweg oder markieren gefährliche Gegenden. Solche Erfindungen stoßen immer wieder auf ein breites Interesse, sind aber auch umstritten. Die Kritik: Sie legten die Verantwortung für die eigene Sicherheit in die Hand der Frauen und reproduzierten einen hartnäckigen Vergewaltigungsmythos über einen unbekannten Täter, der in einer dunklen Ecke auf der Straße lauert. Der gefährlichste Ort für Mädchen und Frauen ist jedoch nicht der öffentliche Raum, sondern ihr eigenes Zuhause. Die Täter stammen in der Regel aus dem Nahbereich der Opfer.
Auch Goswami ist überzeugt davon, dass technologische Innovation alleine nicht ausreichen kann, um das enorme Ausmaß an geschlechtsspezifischer Gewalt einzudämmen, sie fordert eine „mehrgleisige Strategie“. Denn für so manche Betroffene ist das direkte Gespräch mit Freundinnen und Freunden oder auch mit Fachkräften in Frauenberatungsstellen nicht durch technologische Hilfsmittel zu ersetzen. „Man darf den großen Wert von menschlicher Interaktion, von Empathie durch einen verständnisvollen Partner oder eine mitfühlende Community niemals unterschätzen“, sagt Goswami.
Mit Mumkin will sie einen zusätzlichen geschützten Raum schaffen, der sich an den Bedürfnissen der Überlebenden orientiert. Das ist ihr auch deswegen gelungen, weil sie diese Bedürfnisse sehr genau kennt. Priya Goswami war Mitte zwanzig und Studentin am National Institute of Design im indischen Ahmedabad, als sie ihren Debütfilm „A Pinch of Skin“ über Genitalbeschneidung in der Dawoodi Bohra Community drehte und damit quasi aus dem Nichts Indiens wichtigsten Filmpreis gewann, den „60th National Film Award“. Mehrere Jahre hatte sie unter den Frauen der Community recherchiert.
Priya Goswami, App-Entwicklerin
Auf die Veröffentlichung von „A Pinch of Skin“ im Jahr 2012 folgte eine landesweite Debatte, die sogar Indiens oberstes Gericht erreichte. Das Feedback von betroffenen Frauen war so überwältigend, dass Goswami zusammen mit Überlebenden die NGO Sahiyo gründete, die bis heute über weibliche Genitalverstümmelung aufklärt.
Aber es sind nicht nur die Interviews mit betroffenen Frauen, die in die Entwicklung der App Mumkin eingeflossen sind. „Als wir darüber diskutiert haben, wie die App aufgebaut sein soll, ist plötzlich mein gesamtes Leben über mich hereingebrochen“, sagt Goswami. Die Gespräche mit dem Vater, einem theoretischen Physiker; die Logikklassen an der Schule; die Designkurse an der Hochschule; die feministische Literatur, die sie gelesen hatte. Vor allem aber die vielen Gespräche mit ihren Freundinnen. Sie sagt: „Ich kenne keine Frau, die nicht über die Schulter blickt, wenn sie nachts nach Hause geht. Die noch nie sexistische Sprüche aushalten musste. Die immer gleichberechtigt behandelt wurde.“ Wenn Technologieentwicklung diese Erfahrungswelten von Frauen nicht berücksichtige, dann sei das ein Armutszeugnis, findet Goswami.
Ein neues Technikverständnis
Es ist auffällig, dass der Diskurs über Frauen in der Technologiebranche bislang selten über die zahlenmäßige Frage der Repräsentation hinausgeht. Als würde es reichen, zwei, drei Frauen mehr zu beschäftigen um diese Krise der Vielfalt zu bewältigen. Für Frauen wie Priya Goswami reicht das nicht. Es geht um einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel, hin zu anderen Themen, hin zu einem neuen Technikverständnis.
Goswami und ihr Team begriffen schnell, dass nicht alles, was technologisch möglich ist, auch hilfreich für Betroffene von Gewalt sein muss. Mehr noch: Dass so mancher technischer Standard Überlebende womöglich sogar in Gefahr bringt. Also entschied Goswami, keine persönlichen Daten zu tracken. Sie wählte ein spielerisches Design für ihre App, um die Nutzerinnen nicht durch eine unüberlegte Bilderwahl zu retraumatisieren. Rückblickend sagt sie: „Wenn du feministische Technologien bauen willst, musst du im Prinzip alles hinterfragen. Das beginnt schon bei Kleinigkeiten, zum Beispiel, ob bei der Anmeldung die Option ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ an erster Stelle steht.“
Mumkin bedeutet ungefähr so viel wie „möglich“. Damit hat Priya Goswami für ihr Projekt einen Namen gewählt, der programmatisch für ihr gesamtes Vorhaben ist: Zu einer Gesellschaft beizutragen, in der Frauen und Mädchen sicher und gleichberechtigt leben können, in der die „Vergewaltigungskultur abgeschafft worden ist“, sagt sie. Dass das möglich ist, davon ist Priya Goswami überzeugt.
Dieser Text ist im Rahmen von „ComLab#4: Smarte neue Welten“ entstanden, einem Communication Lab der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Internationalen Journalisten-Programme.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos