Wehrsport für Kosaken in Kiew: Mit Glasscherben den Körper stählen
Der Kampf geht weiter. Mitten in Kiew bereiten sich Kosaken auf einen Kriegseinsatz in der Ostukraine vor. Wer nicht spurt, wird gezüchtigt.
KIEW taz | Es ist ein emsiges Treiben, das in den Armeezelten des Kosakenlagers auf der Insel Truchanow mitten in Kiew herrscht. Gerade einmal 15 Minuten vom Maidan, dem Herzen der ukrainischen Hauptstadt, entfernt, eingebettet zwischen dem Hauptflussbett des Dnepr und einem Seitenarm, liegt die Insel Turchanow. Wer das beliebte Kiewer Naherholungsgebiet besuchen will, wählt in der Regel die Fußgängerbrücke. Strände, Erholungsparks, Grün- und Sportanlagen sowie ein ausgedehnter Kiefernwald lassen den Besucher den Smog der Hauptstadt für ein paar Stunden vergessen.
Bewohnt wurde die Insel lange nicht. Das änderte sich im vergangenen August, als die Kosaken auf dem Maidan ihre Zelte abbauen mussten. 80 ukrainische Kosaken hatten sich daraufhin dort, wo 2012 während der Fußballeuropameisterschaft mehrere tausend Fans der schwedischen Mannschaft gezeltet hatten, in einem eigenen Lager niedergelassen. Einen Steinwurf von der Fußgängerbrücke entfernt, laden sie zum Besuch ein, bieten Unterricht im Schießen, Kampfsport und dem Umgang mit dem Säbel an.
Im Lager herrscht strenges Alkohol- und Rauchverbot. „Hier kann jeder wohnen. Er muss nicht unbedingt Kosake sein. Aber er muss sich an unsere Regeln halten. Wer das nicht tut, wird körperlich gezüchtigt“, erklärt Nikolaj Bonder, Ataman (eine Art Oberhaupt der Kosaken). Er gebietet ukraineweit über 15.000 Kosaken und ist jetzt auch noch Chef der 80 Bewohner des Zeltlagers. Bonder ist durchtrainiert, trägt olivgrüne Kleidung und hat seine schütteren grauen Haare zu einem Zopf gebunden.
Es ist eine Mischung aus Ökodorf und Wehrsportgruppe, die den Charakter des Zeltdorfes ausmacht. „Bald werden wir hier ein Haus bauen“, erklärt ein Kosake begeistert. „Es wird ein Ökohaus sein, das wir streng nach ökologischen Kriterien entwerfen.“
Jedes Zelt dient einem bestimmten Zweck. Im „Fitness-Zelt“ finden sich nicht nur Sportgeräte. Glasscherben und Nagelbretter zeigen, dass man hier weiter geht als in Fitness-Clubs. „Anfangs war es schwer für mich, mich mit dem Rücken in Glasscherben zu legen oder auf Nagelbrettern zu laufen. Doch heute macht mir das überhaupt nichts mehr aus. Es ist wichtig, dass wir unsere Körper abhärten, unsere Willenskraft stählen“, kommentiert ein Zeltbewohner den verwunderten Blick auf Glasscherben und Nagelbretter.
„Maidan noch lange nicht beendet“
Die Lagerromantik auf der Insel ist jedoch kein Selbstzweck. Es sind vor allem zwei Aufgaben, die sich die Kosaken von der Insel Truchanow gesetzt haben. „Für uns ist der Protest des Maidan noch lange nicht beendet“, erklärt Ataman Nikolaj Bonder. „Durch den Maidan hat sich fast nichts verändert. Die alten Strukturen sind immer noch an der Macht. Wahlen werden nach wie vor manipuliert. Wie sollen wir in so einer Situation aufhören mit unserem Protest und einfach wortlos nach Hause gehen?“, begründet Bonder die Entscheidung, auf Turchanow seine Zelte aufzuschlagen und damit den Protest aufrechtzuerhalten.
„Die gleichen Leute, die unter dem früheren Präsidenten Wiktor Janukowitsch das Sagen hatten, sind immer noch in Amt und Würden. Die Berkut-Sondereinheiten der Polizei, die Anfang des Jahres Dutzende unserer Leute getötet haben, treiben immer noch ihr Unwesen. Meinem Urgroßvater hat man gesagt: Gedulde dich und dein Sohn wird es besser haben. Meinem Großvater hat man gesagt: Gedulde dich und dein Sohn wird es besser haben. Auch meinem Vater hat man das gleiche gesagt. Und was soll ich meinen Kindern sagen?“
Die Kosaken von Truchanow sehen sich wieder in der Opposition. Für sie, die von Anfang an auf dem Maidan dabei waren und Studenten geschützt haben, sind der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko, Regierungschef Arseni Jazenjuk oder Präsident Petro Poroschenko die Vertreter der gleichen Machtelite, die das Land schon unter Janukowitsch unterdrückt hatte. Man werde es nicht hinnehmen, dass im neuen Parlament über 60 Vertreter der „Partei der Regionen“ sitzen, die im vergangenen Januar für Janukowitschs diktatorische Gesetze gestimmt hatten.
Bereicherung auf Kosten des Volkes
„Als Erstes muss das neue Parlament die Immunität von Abgeordneten aufheben. Es kann ja nicht sein, dass sich Abgeordnete unter dem Schutz der Immunität weiter auf Kosten des Volkes bereichern“, schimpft der Ataman. „Wie unter Janukowitsch auch, gibt es heute in der Ukraine 350.000 Milizionäre und nur 100.000 Soldaten. Heißt das, dass die Regierung ihren Feind im Inneren des Landes sieht?“
Es sei endlich an der Zeit, dass die Regierung für Ordnung im Osten des Landes sorge. Und eine Lösung, da sind sich die Kosaken sicher, könne nur militärisch gefunden werden. Und so tun sie in ihrem Zeltdorf alles, um der ukrainischen Seite zu einem militärischen Sieg zu verhelfen. Die Kosaken sehen sich in der Verantwortung, die der Krieg mit sich bringe. Das Lager auf der Insel sei nur ein Durchgangslager, so Bonder. Die alle paar Wochen rotierenden Bewohner bereite man dort mit Wehrsportübungen auf einen Kriegseinsatz im Osten des Landes vor und man baue Drohnen für den Einsatz im Donbass.
Gleichzeitig bemühten sich die Kosaken um eine patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Für das kommende Wochenende erwarten die Lagerbewohner Besuch von hundert Kindern und Jugendlichen. Diesen werde man, so sagt Bonder, patriotischen Geschichtsunterricht anbieten sowie sie im Schießen und im Umgang mit einem Säbel unterweisen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!