Web-App genius.it: Das gesamte Internet vollschreiben
Mit der Web-App Genius.it werden Kommentare aus dem moderierten Bereich geholt – und finden stattdessen mitten im Text statt. Segen oder Fluch?
Manche mögen ihre Wurst ja mit wenig Senf oder sogar ganz ohne. Andere nehmen extra viel. Das Internet könnte demnächst im Senf ertrinken. Denn dank der Web-App von genius.com kann inzwischen jeder auf sämtlichen Internetseiten seine Meinung hinterlassen. Und zwar nicht in einem moderierten Kommentarbereich, sondern mitten im Text. Das weiß bloß kaum jemand. Dabei ist es ganz einfach: Man muss nur eine Passage markieren und seinen Senf dazugeben. Anschließend kann ein anderer Benutzer des Tools auf die gelb markierte Textstelle klicken und die Anmerkung lesen. “Web Annotator“ heißt das Werkzeug, das dies ermöglicht.
Die Applikation ist eine Mischung aus digitalem Textmarker und wissenschaftlicher Fußnote. Im Kommentarfeld können Autoren den Kontext einer Aussage beschreiben, weitere Beispiele für ein im Text beschriebenes Phänomen benennen, einen komplexen Begriff erklären – oder auch meckern und Geschriebenes widerlegen. Zur Illustration lassen sich Links platzieren, Bilder, kleine Animationen (GIFs) und Videos einbetten. Zu sehen sind sie allerdings nur für diejenigen, die das Tool ebenfalls heruntergeladen haben oder, noch simpler, „genius.it/“ vor die URL-Adresse der Website tippen. Das sind bislang nicht allzu viele. Noch nicht.
Egal was die „Annotator“ hinterlegen, ihre Anmerkungen legen sich wie eine Folie über die Website. Die UrheberInnen der Internetseite oder die AutorInnen eines Textes haben keinen Einfluss darauf. Unliebsame Bekanntschaft mit dem „Web Annotator“ macht kürzlich die amerikanische Bloggerin Ella Dawson. Sie schreibt einen sehr persönlichen Blog über Missbrauchserfahrungen und Slut-Shaming aufgrund von Geschlechtskrankheiten. Nachdem sie wegen eines Textes über Stigmatisierung von Menschen mit Genitalherpes auf Twitter angegriffen wurde, blockierte sie die Nutzer. Insbesondere eine gesperrte Person hatte anschließend Freude daran, den Blog von Dawson via genius.it mit Anmerkungen, Annotations genannt, zu tapezieren. Dawson fand das nicht so gut. Dagegen tun konnte sie allerdings wenig.
In den USA hat sich darüber eine Debatte entfaltet: Selbst die demokratische Kongressabgeordnete Katherine Clark forderte genius.com auf, Stellung zu beziehen und Hasskommentare zu unterbinden, möglicherweise mittels eines „Melden“-Buttons. Immerhin: Kurz darauf implementierte Genius eine „Report abuse“-Funktion.
Außerdem versicherte Tom Lehman, Chef und Gründer von Genius, dass „jeder einzelne Kommentar von Mitarbeitern gelesen und geprüft wird“. Missbräuchliche Inhalte würden gelöscht und Nutzer gesperrt. Bislang würden Ausfälle von der Community gemeldet, und den Report-Abuse-Button gebe es ja nun auch. Eine taz-Nachfrage, ob es künftig für Website-Inhaber die Möglichkeit gebe, Annotations auf ihrer Website auszuschalten, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Dawsons Blog bleibt unterdessen kommentiert. Die Bloggerin muss wohl vorerst damit leben. Immerhin gibt es für Wordpress inzwischen ein Plugin, mit dessen Hilfe man genius.com aussperren kann.
Die Community genießt einen guten Ruf
Klar ist bei allen Bedenken: Das Tool muss nicht unbedingt schlecht sein. Die Genius-Community genießt, verglichen mit den Troll-Mobs von 4Chan oder Reddit, einen guten Ruf, weil sie sich in der Regel an die Netiquette hält.
Außerhalb der Gemeinschaft weckt der „Web Annotator“ ebenfalls Interesse: Die Autorin Natasha Vargas-Cooper von der kulturkritischen Zeitschrift The Baffler nutzte das Tool, um Anmerkungen über ihren Text zu Polizeigewalt zu legen, die mit weiterführenden Informationen gespickt sind und um kritische Stellen näher zu erläutern. Der Text insgesamt profitiert davon.
Oder Matthew Pulver, Journalist vom Internet-Magazin Salon.com, der seine in einem Kommentar herausgelassene Wut über Donald Trump und das weiße Amerika nach einiger Reflexion noch mal differenziert und selbst kritisiert. Aber in diesen Fällen sind es eben auch die Autoren selbst, die das Tool verwenden. Was aber ist mit Kommentaren von anderen Usern, wie bei Dawsons Blog?
Der Fokus von genius.com liegt auf Journalismus. „Public powered journalists“ sollen vom öffentlichen Diskurs profitieren, so die Idee von „News Genius“.
Ursprünglich ein Lyricsportal für HipHop
Dass es funktionieren kann, crowdbasiert Wissen anzuhäufen, zeigt nicht nur Wikipedia, sondern auch genius.com schon länger. Ursprünglich war es ein Lyricsportal für HipHop. Wer die amerikanische HBO-Serie „The Wire“ im Original sah, weiß, wie schwerverständlich amerikanischer Slang schon in gesprochenen Dialogen sein kann. Ganz zu schweigen von Rap-Lyrics. Bei Genius sind kommentierte Textpassagen durch Interpretationen und Erklärungen ergänzt. Das funktioniert ganz hervorragend.
Selbst Kendrick Lamar und Eminem kommentieren dort ihre Texte. Sie geben so Einsicht in ihr Werk an ihre Fans weiter, und die können dann auch ihren Senf dazugeben. Manche mögen viel Senf ganz gern.
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