Waschbär und Mensch in Berlin: Sind so kleine Pfoten
Ein Verein will den Ruf des Waschbären verbessern und plant ein Projekt zur Geburtenkontrolle. Bei der Genehmigung hapert es – warum, ist unklar
Im Besprechungsraum des Vereins Hauptsache Waschbär in einem Bungalow unweit der Krummen Lanke in Zehlendorf ist ein ganzes Grüppchen der Tiere damit beschäftigt, die Ikea-Regale hoch- und runterzuklettern oder Obststücke – ganz namenstypisch – in eine Wasserschale zu tauchen, um sie dann zu fressen. Einer der Kleinbären mit dem braun-grauen Pelz und dem schwarzen Fleck im Gesicht, der wie eine Maske wirkt, rennt ein paar Runden in einer großen hölzernen Trommel, einer Art überdimensionalem Hamsterrad.
Für Mathilde Laininger, die Vorsitzende von Hauptsache Waschbär, und die anderen Mitglieder, die an diesem Tag gekommen sind, ist das völlig normal. Schließlich betreibt der Verein hier eine „Begegnungsstätte“ für Waschbären und Menschen, in der etliche Tiere leben und an Besuchergruppen gewöhnt sind. Ziel ist es, Vorurteile gegenüber dem Waschbär abzubauen. Denn obwohl die wenigsten BerlinerInnen ihm richtig nah gekommen sind, haben die meisten eine Meinung über ihn. In der Regel ist es keine allzu gute.
Dass die Tiere ganz knuffig sind, wird kaum jemand bestreiten, sonst aber fallen die Urteile weniger positiv aus: Der Waschbär vermehrt sich rasant, wildert bedrohte Tierarten, verwüstet Gärten und Dachböden, überträgt Krankheiten – und er ist nicht von hier. „Manchmal kommen Kindergruppen in die Begegnungsstätte, da sagen die Knirpse auch gleich: Die gehören nicht hierher!“, berichtet Laininger, die seit 30 Jahren eine Kleintierpraxis betreibt und sich mittlerweile auf Waschbären spezialisiert hat.
Nicht von hier
Dass Procyon lotor „nicht von hier“ ist, trifft zu, zumindest in erdgeschichtlichen Zeiträumen gemessen: Erst im 20. Jahrhundert setzte die aus Nordamerika stammende Kleinbärenart ihre Pfoten auf europäischen Boden. In Deutschland wurde der Allesfresser, der bis zu neun Kilo schwer werden kann, wegen seines begehrten Pelzes gezüchtet, etliche Exemplare entkamen aus den Farmen. In den 1930er Jahren siedelte man den Waschbär sogar gezielt in den nordhessischen Wäldern aus. Seitdem hat sich die Art prächtig vermehrt, besonders große Populationen gibt es weiterhin in Hessen – und im Raum Berlin-Brandenburg.
Als „invasiv“ gelten Pflanzen oder Tiere, die wie der Waschbär vom Menschen in Regionen gebracht werden, in denen sie nie vorkamen und sich aufgrund günstiger Bedingungen schnell ausbreiten – etwa weil natürliche Fressfeinde fehlen. Das kann massive Schäden an einem Ökosystem nach sich ziehen. Im Fall des Waschbären, der seit 2016 auf der EU-Liste der „invasiven gebietsfremden Arten von unionsweiter Bedeutung“ geführt wird, ist dabei eine Ausrottung längst nicht mehr möglich. Laininger und ihre MitstreiterInnen von Hauptsache Waschbär, aber auch die Biologin Carolin Weh von der „Waschbär-Vor-Ort-Beratung“, vertreten ohnehin die Ansicht, dass die mit den Tieren verbundenen Risiken überschaubar sind und sich in den Griff kriegen lassen.
Krankheiten? Überträgt der Waschbär praktisch nie auf den Menschen, argumentiert der Verein. Dezimierung anderer Arten? Dass der Waschbär Amphibienbestände bedrohe, sei ein Irrglaube. Das habe auch eine vom Senat beauftragte Studie vor wenigen Jahren gezeigt. Der Waschbär räumt die liebevoll gepflegten Obstbäume im Kleingarten ab? Dagegen könne man etwas tun, sagt Laininger, „oft mit ganz einfachen Maßnahmen wie einer glatten Plexiglasmanschette um den Baumstamm, an der rutschen die Waschbären ab“. Fallobst zu entfernen sei eine weitere effektive Maßnahme, um einen Garten für den Waschbären weniger attraktiv zu machen.
Trotzdem: Dass eine übergroße Zahl an Waschbären Probleme macht, sieht man auch bei Lainingers Verein – und dass die Population noch lange weiterwachsen wird, wenn man nichts dagegen unternimmt. Schließlich gilt die besiedelte Fläche Berlins, in deren Gärten und Grünflächen die meisten Konflikte auftreten, als „befriedeter Bezirk“, in dem nur in Ausnahmefällen gejagt werden darf.
Überdies bringt die Jagd auf den Waschbären wenig: Die Art weist eine sogenannte kompensatorische Fertilität auf, vermehrt sich also stärker, wenn der Bestand dezimiert wird, ob durch Bejagung oder Krankheit. Eine Erklärung dieses Mechanismus lautet, dass die Tiere sich über ihren Geruchssinn an den gemeinsam genutzten „Latrinen“ informieren, wie viele Artgenossen in der Umgebung leben. Werden es weniger, beteiligen sich die Weibchen früher als sonst an der Reproduktion, auch die Würfe werden größer.
Gewaltsamer Tod
Dabei sterben durchaus nicht wenige Waschbären einen gewaltsamen Tod, und das nicht nur durch Überfahren. Immer dann, wenn jemand ein krankes oder verletztes Tier oder einen – vermeintlich verlassenen – Welpen findet, kommt es jedenfalls zu einer paradoxen Situation: Einerseits ist es verboten, invasive Tierarten (wieder) in die freie Wildbahn zu entlassen, andererseits haben die wenigsten ein Interesse daran, künftig einen Waschbären zu halten – was tatsächlich erlaubt wäre.
Viele wählen dann die Nummer des Nabu-Wildtiertelefons. Aber: „Unsere Erfahrung mit dem Nabu-Telefon ist leider, dass die Anrufer gesagt bekommen: Überlassen Sie das Tier sich selbst oder rufen Sie einen Jäger“, so Mathilde Laininger. „Der Stadtjäger wird den Waschbären aber töten – oder er bittet die Polizei um Amtshilfe, und die erledigt das dann.“
Diese ungute Praxis, über die niemand wirklich offen spricht, will der Verein beenden. Er hat ein Pilotprojekt zum „nicht-letalen Populationsmanagement“ entwickelt, sprich: zur mittelfristigen Reduzierung des Waschbäraufkommens, ohne Tiere zu töten. Das Mittel: Unfruchtbarmachung durch Kastration der Weibchen und Sterilisation der Männchen. Der Plan: Die Vereinsmitglieder von Hauptsache Waschbär fangen die Tiere in eigens entwickelten Fallen, operieren sie in einem zur Mini-Praxis umgebauten Transporter und lassen sie wieder laufen.
Eine Stunde in der Nacht
Hauptsache Waschbär musste viel Überzeugungsarbeit leisten: „Der Senat hat unseren Plan als eine Entnahme der Tiere interpretiert“, so Laininger. Damit wäre ein Wiederaussetzen vermeintlich unzulässig. „Es ist aber keine Entnahme“, argumentiert die Vereinschefin. „Wir machen das in unserem Kastrationsmobil in der Nacht, mit Nachbereitung dauert die OP maximal eine Stunde, dann werden die Bären wieder freigelassen.“ Sie verweist auch auf ein neues Gutachten der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht. Die ist überzeugt, dass das Wiederaussetzen nach einer Behandlung mit EU-Recht vereinbar ist.
Eine Vorstudie, bei der die Fallen getestet und Bestände ermittelt wurden, konnte im vergangenen Jahr stattfinden. Die Hauptstudie, bei der in einem Gebiet die Tiere behandelt, in einem zweiten, vergleichbaren Gebiet nur registriert und untersucht werden sollen, soll in diesem Sommer starten und fünf Jahre dauern. Ob es aber im August wirklich losgehen kann, ist zurzeit noch ungewiss.
„Wir haben riesige Hürden genommen“, sagt Laininger. „Ich musste einen Jagdschein und einen Fallenschein machen. Wir mussten nachweisen, dass wir Gartenbesitzer gefunden haben, auf deren Grundstücken wir die Fallen aufstellen können.“ Immer neue Auflagen habe es aus der Umweltverwaltung und den Unterbehörden gegeben. „Wir haben sie alle erfüllt.“
Seit einiger Zeit hängt es nun noch an einer Ausnahmegenehmigung zur Aufstellung von Fallen, die die Berliner Jagdbehörde erteilen muss. „Warum sich das so lange zieht, wüssten wir auch gern“, sagt Laininger. Komme die Genehmigung zu spät, lasse sich der Zeitplan nicht mehr einhalten. Im Herbst bereiten sich die Tiere auf die Winterruhe vor, dann lässt ihre Aktivität nach.
„Ich möchte dem Ergebnis nicht vorgreifen, vertraue aber auf meine Behörde, dass die das angemessen prüft“, sagte Umweltstaatssekretärin Britta Behrendt (CDU) vergangenen Donnerstag bei einer Anhörung im Umweltausschuss des Abgeordnetenhauses, in der es um das geplante Berliner „Wildtierkompetenzzentrum“ ging, an dem sich auch Hauptsache Waschbär beteiligen will. Mathilde Laininger ist etwas ratlos. „Ich habe manchmal den Eindruck, dieses Projekt ist nicht erwünscht“, sagt sie. „Die wollen vielleicht einfach nicht noch mehr Argumente gegen die Jagd haben, und wenn unser Projekt Erfolg hat, ist das eben eine klare Alternative zur Bejagung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin