Was passierte in Bottrop?: Anschlag, Amoklauf oder Terror?
Bei Gewalttaten entscheiden Medien schnell, wie sie das Ereignis nennen. Manche Redaktionen haben dafür Regeln, andere entscheiden spontan.
Wie wir eine Gewalttat nennen, bestimmt, wie wir sie politisch bewerten. In Bottrop und Essen fuhr ein Mann in der Silvesternacht mit dem Auto in Menschengruppen, verletzte dabei acht Personen. Die Frage, ob Nachrichten dies bloß als „Anschlag“ oder gar als „Terror“ bezeichnen, ist nicht trivial.
Die Wortwahl, das sogenannte Framing, bestimmt, welche Teile der Wirklichkeit wir wahrnehmen. Nachrichtenagenturen und Medienmacher haben daher eine besondere Verantwortung: Sie müssen Ereignisse von Anfang an korrekt bewerten. Der Fall von Bottrop und Essen zeigt, wie jede Redaktion das Geschehen anders einschätzt und so andere Worte wählt.
In der taz war die Tat von Bottrop und Essen ein „Terroranschlag“. Ein Begriff, den die Deutsche Presseagentur dpa in ihren Berichten bewusst nicht benutzte. Die Agentur titelte in der ersten Eilmeldung am Neujahrstag: „Mann fährt in Fußgänger – möglicherweise fremdenfeindlicher Anschlag“. Bottrop wird zum „Anschlag“, nicht zum „Terror“.
Denn bevor die Agentur von „Terror“ spricht, müssen dort zwei Bedingungen erfüllt sein, erklärt Nachrichtenchef Froben Homburger auf Anfrage: „Der Täter muss zum einen politisch-ideologisch oder politisch-religiös motiviert gehandelt haben und zum anderen entweder einer extremistischen Organisation oder Zelle angehören oder sich zumindest einer solchen Organisation oder Zelle verbunden fühlen.“ Eine Verbindung zu einer Terrorgruppe sei bislang aber nicht bekannt. Daher bleibt die dpa beim „Anschlag“.
Was genau ist passiert?
Exakte Definitionen wie die der dpa gibt es am Newsdesk von Spiegel Online hingegen nicht. „Es kommt auf den Einzelfall an“, sagt Oliver Trenkamp, geschäftsführender Redakteur der Nachrichtenseite. „Eine allgemeingültige Definition für jede Eventualität kann es aus meiner Sicht nicht geben, zumal es auch in der Wissenschaft dazu unterschiedliche Auffassungen gibt.“ Stattdessen gehöre die angemessene Einordnung zum „tagtäglichen Handwerk in der Redaktion“.
Selbst wenn es schnell gehen muss, wie bei Eilmeldungen, bestehe der journalistische Anspruch, Vorgänge angemessen zu bezeichnen. Im Zweifel gelte bei Spiegel Online immer, so Trenkamp: „Korrektheit und Akkuratesse gehen vor Tempo.“
Für die Redaktion der „Tagesschau“ wiederum war die Nachrichtenlage am ersten und zweiten Januar unsicher, sodass man weder von einer „Amoktat“ noch von „Terror“ sprach. Man wolle vermeiden, sagt Chefredakteur Kai Gniffke, Ereignisse zu schnell in eine Schublade zu stecken, die sich anschließend als falsch erweist. Dafür prüfe man Fakten von allen Seiten: „Wir verlassen uns dabei nicht nur auf die Polizei, sondern prüfen alle Quellen, die wir anzapfen können, wie Bekennervideos oder ähnliches“, so Gniffke.
Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus?
Wieso der mutmaßliche Täter in genau diese Menschengruppen fuhr, war ebenso umstritten. „Rassist fährt Menschen um“, titelte die taz demonstrativ am Donnerstag. Die Polizei Münster hatte zuvor aber in ihrer Pressemitteilung von einer „fremdenfeindlichen Einstellung des Fahrers“ gesprochen. „Fremdenfeindlichkeit“ geisterte fortan durch die Medien, von vielen kritisiert, weil die Opfer nur aus Tätersicht „Fremde“ im Land sind.
Auch die „Tagesschau“ verwendete den Begriff, habe damit aber alles richtig gemacht, verteidigt sich Gniffke: „Im Falle der Tat von Bottrop haben wir in unseren Berichten betont, dass die Polizei von einem ‚fremdenfeindlichen‘ Motiv ausgeht.“ Damit habe sich die Redaktion den Begriff nicht zu eigen gemacht, genauso wie beim Wort „Rassismus“: Auch da habe man „bewusst so formuliert, dass deutlich wird, dass der Begriff im Zuge der Ermittlungen verwendet wird“.
Die „Tagesschau“ macht sich keinen der beiden Begriffe zu eigen, Spiegel Online schon: „Wir bemühen uns, in unserer Berichterstattung den jeweils angemessenen Begriff zu benutzen“, sagt Trenkamp, „in diesem Fall ist das aus meiner Sicht ‚Rassismus‘.“ Man wolle die Wortwahl der Täter nicht übernehmen: „Dem mutmaßlichen Täter von Bottrop ging es ja darum, Minderheiten nicht mehr im Land haben zu wollen, die er als ‚Fremde‘ bezeichnet.“ Daher sei es unangemessen, Begriffe wie „Fremdenfeindlichkeit“ und „Ausländerfeindlichkeit“ weiter zu verwenden.
Die Deutsche Presseagentur hat intern diskutiert: Soll man weiter von „Fremdenfeindlichkeit“ sprechen, selbst wenn man damit nur wiedergibt, was Polizei, Staatsanwaltschaft und das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen gesagt haben? Die Journalisten einigten sich auf einen Kompromiss: „In unserer Berichterstattung zu Bottrop werden wir zwar auch weiterhin die offiziellen Formulierungen so wiedergeben, wie sie gefallen sind“, sagt Homburger, „werden aber zusätzlich darauf hinweisen, dass der Fahrer aus rassistischen Motiven handelte.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren