Warum Sail: Wo der Weltgeist anlegt
Sail, da wird Bremerhaven zur Hölle, oder? Von wegen: Echte Hardcore-Bremerhavener messen nicht in Jahren, wie die Zeit vergeht, sondern in – Sails.
Einer Außenstehenden wie Milu zu erklären, was dieses maritim-bürgerliche Mega-Event für eine Bedeutung für die Ansässigen hat, war und ist nicht leicht. Sail ist die Vergewisserung, dass man in einer globalisierten, postfordistischen und -modernistischen Welt, nach dem Niedergang der Fischerei und eines beträchtlichen Teils des traditionellen Schiffsbaus, noch immer Hafenstadt, Weltstadt, Stadt am Meer ist.
Dass man den Hafen einst nicht für Hobbyskipper ausgehoben hat, die ihren getunten Nussschalen Namen wie „Sabine“, „Baracuda 3000“ oder „Lord John“ geben. Sondern für wirkliche Schiffe, Schiffe mit turmhohen Masten, Takelage und mehreren Metern Tiefgang. Schiffe für Seebären und ihre Bräute, Schiffe, die man „Sedov“, „Statsraad Lehmkuhl“, „Dar Mlodziezy“ oder „Alexander von Humboldt“ tauft.
Für echte Bremerhavener misst sich ein Leben nicht in Jahren, sondern in Sails. Mehr oder weniger alle fünf Jahre gibt es eine, seltener als eine Fußball-WM oder eine Bundestagswahl. In fünf Jahren hat Napoleon halb Europa unterworfen, in weiteren fünf wieder verspielt. Fünf Jahre sind eine verdammt lange Zeit.
Die Vorfreude auf die immer nächste manifestiert sich in einem riesigen dreidimensionalen Sail-Schriftzug, der einen auf dem Weg zum Shopping in der Innenstadt schmerzlich daran erinnert, wie viele Jahre noch auszuharren sind – oder schlimmer noch: daran, dass die nächste Sail bald losgeht und dann schon wieder bald vorbei sein wird, dass also wieder fünf Jahre ohne Sail kurz bevorstehen.
Als kleines Kind saß ich 1986 am Deich und bewunderte die vielen tollen Schiffe während der großen Parade auf der Weser. 1990, 1992 und 1995 wurde Sail zum Ritual. Ab dann alle 5 Jahre (plus eine kleine Sail) zum lokalen Herzschrittmacher. Neben der Parade und dem Höhenfeuerwerk haben Bundeskanzler und Bundespräsidenten sie zum Staatsakt gemacht.
Es spielen viele schlechte Bands, es gibt viel schlechtes Essen, man sieht viele schlecht angezogene Touristen und Einheimische. Aber wir alle, meine Freunde und ich, wir geborenen Bremerhavener, wir kommen alle immer zurück und bringen unsere Liebsten mit. Weil die Sail uns trotz allem verbindet, weil sie Teil unserer Bremerhavener DNA ist, weil die Schiffe großartig sind, die Matrosen sexy, stolz und gepflegt in ihren Uniformen durch die Fussgängerzone laufen, als wäre es 1955 und Bremerhaven noch immer ein aufregender Kulminationspunkt des Weltgeistes.
Mein größtes Sail-Erlebnis ging aber so: Unser Nachbar, der Experimental-Musiker Jens Carstensen, hat zur Sail den maritimen Feelgood-Terror empfindlich gestört und mit einer anarchischen, ohrenbetäubend lauten Schiffstyphon-Installation (wie hat er die Mittel dafür bekommen?!) Touristen und Affen im nahen Zoo am Meer in den Wahnsinn getrieben: Horror auf den Gesichtern der Rentner, Panik auf jenen der Schimpansen – und das alles unter dem Deckmantel der Tourismusförderung. Man muss den Kapitalismus halt mit seinen eigenen Mitteln schlagen.
Ich stand mit Milu vor dem Typhon-Turm. Wir kamen gerade aus Berlin, wir dachten, wir wären wild, wir dachten, das Berghain und der Berliner Beton, das sei der Gipfel der Dissidenz, wir dachten, wir wären hart und laut. Der Typhon-Turm war härter, er war lauter. Er trieb uns Tränen ins Gesicht, aber es waren Tränen der Freude. Ich nahm Milu in den Arm, wir schlenderten den Deich entlang, immer weiter in der Ferne dröhnten die Typhone.
Auf der Außenweser blähten sich die Segel im Wind. Die Sonne schien, wir blinzelten Richtung Meer. Es war einer dieser Bremerhavener Momente zwischen Höllenfahrt und Erhabenheit. Es war Sail und wir waren verliebt.
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