Wartelisten bei Spenderorganen: Wer 18 wird, rutscht nach hinten
Eine Studie des Uniklinikums Schleswig-Holstein kritisiert die starren Altersgrenzen bei der Verteilung von Spenderorganen. Diese seien ungerecht.
Für diese Regeln ist in Deutschland die Bundesärztekammer zuständig. Die Verteilung selbst erfolgt durch die Stiftung Eurotransplant gemäß den Vorgaben der Bundesärztekammer. Eurotransplant verteilt Organe auch in anderen EU-Ländern, darunter Österreich und Belgien.
Eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) zeigt, dass die Verteilungsregeln für Nieren problematisch sind. Benedikt Kolbrink ist Erstautor der Studie, die die Problematik der „starren Altersgrenzen“ beleuchtet. Derzeit warten Menschen, abhängig vom Alter, unterschiedlich lange auf ein Transplantat. Die Altersgrenzen für die Organverteilung liegen bei 18 und 65 Jahren. Das heißt, die Verteilungsregeln kommen Menschen unter 18 oder über 65 zugute. Die durchschnittlichen Wartezeiten betragen laut Studie 1,7 Jahre (U18) und 3,8 Jahre (Ü65). Menschen zwischen 18 und 65 warten dagegen rund sieben Jahre auf eine Transplantation.
Die Unterschiede ergeben sich daraus, dass Menschen unter 18 einen Kinderbonus bekommen. Menschen über 65 fallen ins Eurotransplant Senior Program, das ihnen ebenfalls einen Sonderstatus verleiht. Laut Studie führt dies dazu, dass besonders viele 65- und 66-Jährige transplantiert werden. 65-Jährige würden zudem fast viermal häufiger transplantiert als 64-Jährige. Außerdem steige die Differenz der Wartezeit zwischen Personen unter und Personen über 65 weiter. Die Ungleichheiten an der 18-Jahre-Altersgrenze wüchsen ebenfalls.
Willkürliche Verteilungsregeln?
Kolbrink, der Arzt an der Klinik für Nieren- und Hochdruckkrankheiten am UKSH Kiel ist, nennt die Verteilungsregeln ungerecht. „Diese Altersgrenzen stehen nicht auf medizinisch-wissenschaftlicher Basis, sondern sind willkürlich gesetzt. Sie führen dazu, dass Menschen mit dem Erreichen eines kalendarischen Datums plötzlich eine ganz andere Chance auf eine Nierentransplantation haben als Menschen, die dieses Datum noch nicht erreicht haben.“
Dies führe zu „krassen Effekten“. Junge Menschen, die an einem Nierenversagen litten und vor ihrem 18. Geburtstag kein Organangebot erhielten, rutschten mit dem 18. Geburtstag in der Warteliste um viele Plätze nach hinten. Die lange Wartezeit mit Dialyse zu überbrücken, verringere die Lebenserwartung massiv, sagt Kolbrink.
Kolbrink hält die starre Regelung für überholt: „Der größte Teil der Fachwelt ist der Meinung, dass der Prozess des Erwachsenwerdens, insbesondere von chronisch kranken Kindern, nicht an eine Altersgrenze gekoppelt sein soll.“ Alle anderen Länder im Eurotransplant-Raum hätten die starre Altersgrenze ab 18 abgeschafft und durch einen kontinuierlichen Abbau von Bonuspunkten vom 18. bis zum 30. Lebensjahr ersetzt.
„Es gab seit Langem Hinweise, dass starre Altersgrenzen in den Regeln zur Verteilung von Nieren problematisch sind. Aber erst die Einführung des nationalen Transplantationsregisters und somit die Verfügbarkeit öffentlich zugänglicher Daten hat es ermöglicht, dies nachzuweisen“, sagt Kolbrink. So sei die Studie möglich geworden, für die die Daten von Spender*innen und Empfänger*innen zusammengeführt wurden.
Ärztekammer sieht keine Notwendigkeit für Debatte
Aus der Studie ließen sich Handlungsempfehlungen ableiten. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man das Problem angehen könnte“, sagt Kolbrink. Andernorts gebe es Vorgehensweisen, die das Problem besser lösten. In den USA oder Großbritannien würden Organe und Empfänger*innen zum Teil nach Lebenserwartung zusammengebracht, damit junge Organe mit hoher Lebensdauer an junge Empfänger*innen gingen. „In unserem Verteilungssystem gibt es so einen Mechanismus nicht, der das sicherstellt. Aus medizinischer und volkswirtschaftlicher Sicht ist das nicht sinnvoll“, sagt Kolbrink.
„Jetzt ist es an der Politik und der Bundesärztekammer, das zu überdenken und nach ethischen Maßstäben abzuwägen“, erklärt Kolbrink. Es müsse berechnet werden, welche Änderung des Verteilungssystems welche Änderungen der Verteilung hervorrufe. Dann müsse man sich auf ein System verständigen, das die Probleme des heutigen minimiere. „Man kann Organe nicht perfekt verteilen, weil sie ein knappes Gut sind. Man kann aber versuchen, den bestmöglichen Kompromiss zu finden“, sagt Kolbrink.
Die Bundesärztekammer erklärt auf Nachfrage, dass die zuständige Arbeitsgruppe mit diesen Fragen befasst sei. Die bestehenden Richtlinien verstießen rechtlich nicht gegen die Gleichbehandlungs- oder Verhältnismäßigkeitsgrundsätze. Die Notwendigkeit für eine Grundsatzdebatte sehe man nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“