Warnung vor Epidemie in Syrien: Corona in Zeiten der Waffenruhe
Im syrischen Idlib schweigen die Waffen. Die Menschen strömen auf die Straßen. Die WHO beginnt mit ersten Corona-Tests in der Rebellenprovinz.
„Die Menschen hier unterschätzen Corona und kümmern sich nicht um das Virus“, sagt Suad al-Aswad aus Idlib-Stadt gegenüber der taz am Telefon. „Sollten Fälle auftauchen, wird es zu einer Katastrophe kommen, da es hier kaum Orte gibt, an denen man sich isolieren kann.“ Auch mangele es an medizinischem Personal. Viele Ärzt*innen und Pfleger*innen hätten den Dienst quittiert wegen der Bombardierungen von Krankenhäusern durch das syrische Regime.
Und noch etwas begünstigt eine Ausbreitung des Virus: In Idlib und Teilen der angrenzenden Provinzen gilt seit rund drei Wochen eine Waffenruhe. Die Türkei und Russland, die in der Region das Sagen haben, haben sich auf ein Ende der Kampfhandlungen verständigt. „Aufgrund des Waffenstillstands strömen die Menschen regelrecht auf die Straßen“, sagt al-Aswad, „die Märkte sind voller Menschenmassen und die Geschäfte sind sehr dicht gepackt.“ Desinfektionsmittel gebe es nirgends.
Die WHO hat am Dienstag die ersten dreihundert Corona-Testskits über die türkisch-syrische Grenze in ein Labor in Idlib-Stadt geliefert. Mehrere Tausend sollen folgen. Zudem seien drei Krankenhäuser mit Intensivstationen und Beatmungsgeräten auf eine Ausbreitung des Coronavirus vorbereitet worden, wie ein Sprecher am Montag mitteilte.
Beatmungsgeräte sind belegt
Doch Hilfsorganisationen bleiben skeptisch: „Obwohl drei Krankenhäuser mit Intensivstationen identifiziert wurden, gibt es insgesamt nur 201 Betten und nur 95 Beatmungsgeräte“, sagt Misty Buswell von der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC), der taz. „Die meisten Beatmungsgeräte werden derzeit verwendet, was bedeutet, dass ein Ausbruch von Covid-19 das Gesundheitssystem wahrscheinlich überwältigen wird.“
In dem Rebellengebiet in Idlib und Teilen der angrenzenden Provinzen leben rund vier Millionen Menschen. Zum Vergleich: Der Stadt Berlin stehen bei einer Bevölkerung von rund 3,6 Millionen Menschen knapp 100 Krankenhäuser und mehr als 1.000 Beatmungsgeräte zur Verfügung (Stand Mitte März).
Suad al-Aswad, Idlib-Stadt
Buswell plädiert für Hilfslieferungen, die über die Türkei nach Idlib gebracht werden könnten: „Dies umfasst nicht nur persönliche Schutzausrüstung – Masken, Handschuhe und andere Schutzgegenstände – für das medizinische Personal, sondern auch Medikamente und Ausrüstung, damit die Gesundheitseinrichtungen vorbereitet sind, wenn bei einer derart gefährdeten Bevölkerung Covid-19 ausbricht.“
Mehr als eine Million Menschen wurden seit Dezember innerhalb des Rebellengebiets vertrieben, das das syrische Regime mit Unterstützung Russlands seit bald einem Jahr Stück für Stück von großteils islamistischen Aufständischen zurückerobert. Hunderttausende Vertriebene leben laut UN-Angaben in Zelten, unfertigen Häusern und zu Sammelunterkünften umgeformten Schulen oder Moscheen. „Mehr als zehn Familienmitglieder teilen sich ein Zimmer, und auch in den Zelten lebt oft eine ganze Familie“, sagt al-Aswad.
Ausgangssperre in Regimegebieten
Am Sonntag hatte die syrische Regierung, die abgesehen vom Nordwesten und Nordosten des Landes den größten Teil des Staatsgebiets wieder unter ihre Kontrolle gebracht hat, die erste Infektion mit dem Coronavirus gemeldet. Am Mittwoch folgten weitere vier Fälle. Um eine Ausbreitung zu verhindern, ordnete sie laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana eine Ausgangssperre von 18 bis 6 Uhr an.
Louay Yassin, Sprecher der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer, geht davon aus, dass mehr Menschen im ganzen Land bereits infiziert sind. “Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen“, teilte er mit. Denn auch in den Regimegebieten seien bislang kaum Tests durchgeführt worden. „Das syrische Gesundheitssystem ist kaputt, es wird einer Pandemie niemals standhalten können.“
Der Konflikt in Syrien geht in diesen Tagen in sein zehntes Jahr. In Idlib wie in anderen Regionen des Landes haben syrische Regierungstruppen und die russische Luftwaffe gezielt Krankenhäuser in feindlichem Gebiet bombardiert, so dass die medizinische Infrastruktur am Boden liegt. Nach Angaben der WHO wurden zwischen 2016 und 2019 knapp 500 medizinische Einrichtungen angegriffen, zwei Drittel davon in Idlib und Umgebung.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war die Stellungnahme des International Rescue Committee der IRC-Mitarbeiterin Kirsty Cameron zugeordnet. Wir haben die entsprechenden Stellen geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung