Wahlkampf in der Türkei: Erdoğan pusht Herausforderer
Ein Gericht verurteilte Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu zu Haft und Politikverbot. Ihm und der Oppositionspartei CHP dürfte das im Wahlkampf nutzen.
Das Schweigen vor dem Rathaus – es währte jedoch nur wenige Sekunden. Dann ertönten die Rufe: „Es lebe İmamoğlu!“ und „Rücktritt der Regierung!“ umso lauter in den Nachthimmel. Als einige Stunden zuvor, am Nachmittag bekannt wurde, dass in dem seit Monaten verschleppten Verfahren gegen İmamoğlu ein Urteil bevorstand, mobilisierte der Bürgermeister kurzfristig zu einer Kundgebung vor dem Rathaus, und Tausende Menschen machten sich auf den Weg. Zwar ließ das Urteil dann noch auf sich warten, wobei sich die Menge in der Kälte mit Sprechchören warmhielt, doch niemand verließ den Platz. Unterdessen liefen die politischen Drähte im Hintergrund heiß.
Ekrem İmamoğlu, Istanbuler Bürgermeister (CHP)
Ekrem İmamoğlu war erst gar nicht zu der Gerichtsverhandlung erschienen, sondern bereitete sich im Rathaus auf seinen großen Auftritt vor. Ein Jubelschrei ging durch die Menge, als bekannt wurde, dass Meral Akşener, die Vorsitzende der zweiten großen Oppositionspartei, İyi Parti, ebenfalls im Rathaus eingetroffen war und dort begeistert von İmamoğlu empfangen wurde.
Es ist seit Langem ein offenes Geheimnis, dass die einflussreiche Akşener İmamoğlu gern als Präsidentschaftskandidaten der vereinten Opposition bei den bevorstehenden Wahlen sehen würde, statt des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, der sich seit Wochen dafür selbst ins Gespräch bringt. Aus Sicht vieler CHP-Anhänger machte Kılıçdaroğlu am Mittwoch auch den großen Fehler, eine Reise nach Berlin anzutreten, statt İmamoğlu am Tag der Urteilsverkündung vor Ort zu unterstützen. Als das Urteil bekannt wurde, verbreiteten sich in den sozialen Medien mit spöttischen Kommentaren versehene Fotos von Kılıçdaroğlu, wie er in Berlin vor der Passkontrolle steht. Ohne den Flughafen überhaupt zu verlassen, setzte sich der Chef der CHP direkt wieder in ein Flugzeug zurück nach Istanbul, doch als er dort ankam, war es bereits zu spät.
Politisches Komplott gegen 16 Millionen Istanbuler
Denn während er im Flieger saß, veranstalteten İmamoğlu und Akşener vor dem Rathaus auf dem Dach eines eilig organisierten Wahlkampfbusses eine Party, die im Nachhinein wohl als der Auftakt der Wahlkampagne des Oppositionslagers gesehen werden wird. İmamoğlu bezeichnete das Urteil als ein politisches Komplott des Präsidenten gegen ihn und alle 16 Millionen Istanbuler, deren Oberbürgermeister er ist.
„Wir werden dieses politisch motivierte Urteil niemals anerkennen“, rief er der begeisterten Menge zu. Wir fordern „Recht und Gerechtigkeit“ schallte es vom Platz zurück. War die Kampagne der Opposition bislang über ein paar Presseerklärungen kaum hinausgekommen, während Präsident Erdoğan publikumswirksam von einem internationalen Gipfeltreffen zum nächsten jettete, spürte man plötzlich ein neues Momentum.
Erdoğan, der just zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung wieder auf einem Gipfel weilte, dürften angesichts der Bilder aus Sarachane, dem Platz vor dem Istanbuler Rathaus, starke Zweifel gekommen sein, ob es ihm mit diesem politischen Urteil tatsächlich wie erhofft gelingt, seinen stärksten Rivalen bei den kommenden Wahlen aus dem Weg zu räumen. Oder ob er İmamoğlu damit nicht gerade den Märtyrerbonus verschafft hat, der ihn nun zum Star der Opposition macht. Außerdem dürften ihm Erinnerungen an eine Szene von vor 25 Jahren gekommen sein, als er selbst auf dem Platz vor dem Rathaus stand und von seinen Fans gefeiert wurde, nachdem ihn die damalige Regierung, genauso wie er jetzt İmamoğlu, mit Hilfe der Justiz aus dem Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters gedrängt hatte. Die weitere Geschichte ist bekannt. Erdoğan trat trotzdem bei den nächsten Wahlen an der Spitze seiner neu gegründeten AKP an und fegte die alte Regierung regelrecht aus dem Amt.
Istanbuler Kommunalwahlen
Der Prozess gegen Ekrem İmamoğlu erklärt sich aus der Istanbul-Wahl 2019. Bei den damaligen Kommunalwahlen am 31. März gewann İmamoğlu überraschend und sehr knapp gegen den Kandidaten der AKP, den früheren Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, einem engen Vertrauten Erdoğans. Erdoğan wollte die Niederlage in seiner Stadt nicht anerkennen. Er brachte die Wahlkommission am Ende dazu, den Sieg Imamoğlus zu annullieren und Neuwahlen anzusetzen. Die Neuwahlen fanden dann am 23. Juni 2019 statt, Imamoğlu fuhr einen fulminanten Wahlsieg ein.
Der Prozess
Rund 20 Monate nach seinem Wahlsieg war Imamoğlu in Brüssel und sprach dort über die Wahl und das Verhalten der Regierung. Daraufhin warf Innenminister Süleyman Soylu ihm vor, er sei ein Idiot und würde die Türkei im Ausland verraten. Imamoğlu erwiderte darauf, nicht er sei ein Idiot, sondern diejenigen, die damals die Wahlwiederholung durchgesetzt hätten. Daraufhin wurde er angeklagt, weil er angeblich die Mitglieder der Wahlkommission beleidigt hätte, die ja formal die Wahlwiederholung anordnen mussten. Der Vorwurf war so absurd, dass ihn zunächst niemand ernst nahm und auch der zuständige Richter zu erkennen gab, dass er das Verfahren entweder einstellen oder Imamoğlu freisprechen werde. Am Mittwochabend nun wurde Imamoğlu von einem neu eingesetzten Richter für schuldig befunden. Er soll für zwei Jahre und sieben Monate ins Gefängnis und für unbestimmte Zeit Politikverbot bekommen. (jg)
Geschichte wiederholt sich nicht, und doch gibt es erstaunliche Parallelen. Seit Wochen läuft in der Türkei ein kompliziertes Vorwahlgeschacher, sowohl auf Seiten der Opposition wie bei der Regierung. Erdoğan zögert einen Wahltermin festzulegen – er kann zwischen Ende März und Ende Juni auswählen – weil er mit Russlands Putin noch nicht einig ist, wie ein türkischer Einmarsch in Nordsyrien aussehen könnte, den er für seinen Wahlkampf nutzen will. Außerdem, ob und wann es ihm gelingt, die steigenden Preise zu stoppen, die seine Popularität derzeit in den Keller stürzen lassen.
Bei der Opposition ist es womöglich noch komplizierter. Die sechs Oppositionsparteien, von denen allerdings nur zwei im Parlament vertreten sind, eint allein ihre Ablehnung gegen Erdoğan und ein gemeinsames Projekt: Sie wollen das Präsidialsystem wieder abschaffen, wenn sie die Wahl gewinnen. Erstes Vorschlagsrecht für den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten hat die CHP als größte Oppositionspartei. Allerdings hat Meral Akşener als Vorsitzende der zweitgrößten Oppositionsparte, der İyi Partie ein entscheidendes Wort mitzureden. Sie will den für sie aussichtsreichsten Kandidaten: Ekrem İmamoğlu.
İmamoğlu hat zwei Probleme: Sein Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu will selbst antreten, und wenn er doch offiziell Kandidat wird, muss er sein Amt als Oberbürgermeister niederlegen. Die Stadtverordnetenversammlung von Istanbul ist aber nach wie vor von der AKP dominiert. Sie würde dann wohl als Nachfolger İmamoğlus einen AKP-Mann wählen. Bislang konnte Kılıçdaroğlu deshalb argumentieren, Istanbul ist so wichtig, dass İmamoğlu im Amt bleiben muss. Deshalb müsse er selbst Präsidentschaftskandidat werden. Doch jetzt ist plötzlich, dank Erdoğans Instrumentalisierung der Justiz, alles anders. Das Urteil hat alles geändert. Nur wenn İmamoğlu erst Kandidat und dann Präsident wird, kann er sein Politikverbot aus der Welt schaffen. Sonst wird der Spruch irgendwann rechtskräftig.
Für İmamoğlu, der im Gegensatz zu Kılıçdaroğlu auch ein hervorragender Wahlkämpfer ist und bei seinen Auftritten an die Dynamik Erdoğans vor 20 Jahren erinnert, spricht auch, dass viele Kurden mit ihm sympathisieren. Die kurdische HDP gehört offiziell nicht zum Oppositionsbündnis, aber nur wenn sie den Kandidaten gegen Erdoğan unterstützt, hat dieser eine echte Chance. Sowohl Mithat Sancar als auch Pervin Buldan, die beiden Co-SprecherInnen der HDP, haben İmamoğlu ihre Solidarität versichert. Und noch wichtiger, der seit sechs Jahren inhaftierte eigentliche HDP-Chef, Selahattin Demirtaş, sandte aus dem Knast eine Botschaft, in der er das Urteil gegen İmamoğlu als politisches Komplott geißelte.
Am Tag nach dem Urteil, am Donnerstagnachmittag fand auf dem Platz vor dem Rathaus erneut eine Großkundgebung zur Unterstützung İmamoğlus statt. Dieses Mal waren alle Vorsitzenden der sechs Oppositionsparteien anwesend, einschließlich Kemal Kılıçdaroğlu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels