Wahlkampf in Norwegen: Cooler Typ, dieser „Taxi-Jens“
Norwegens Ministerpräsident fuhr, um Volksnähe zu zeigen, als Taxifahrer durch Oslo. Kritische Stimmen fragen nun, ob er das überhaupt durfte.
„Es ist wichtig für mich zu hören, was die Leute wirklich denken“, sagt Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg. „Und wenn es einen Ort gibt, an dem die Menschen ihre Meinung sagen, ist das ein Taxi.“ Deshalb entschied sich der 54-Jährige mit seinen Wahlkampfberatern, dass er sich hinters Steuer einer Osloer Droschke setzen sollte, um dem Volk aufs Maul zu schauen. Dazu zog der Ministerpräsident die Uniform der norwegischen Kutscher an – blaue Strickjacke, orange Krawatte, setzte eine coole Sonnenbrille auf und chauffierte im Juni einen Tag lang in einem dunklen Mercedes.
Doch erst jetzt – knapp vier Wochen vor den norwegischen Parlamentswahlen – machte Stoltenberg seine Exkursion in Form eines Videos öffentlich. Das hatte er während der Fahrt mit versteckter Kamera aufgenommen. Seine PR-Strategen posteten einen Zusammenschnitt jetzt bei Youtube und in anderen sozialen Netzwerken.
Gezeigt wird Stoltenberg hinterm Steuer und beim Smalltalk mit Fahrgästen. Manche erkennen ihn, andere meinen nur, er würde ja fast aussehen wie der Ministerpräsident. Sie lächeln verblüfft, wenn er sich zu erkennen gibt. Eine alte Frau schimpft über die hohen Gehälter von Konzernbossen, Stoltenberg lächelt verschmitzt.
Sein Ausflug unters Volk ist in Norwegen einmalig – doch ein Vorbild ist durchaus zu erkennen: „Tausendundeine Nacht“. In dieser Sammlung morgenländischer Erzählungen geht der Kalif von Bagdad verkleidet auf den Basar, um zu erfahren, was seine Untertanen wirklich über ihn denken.
Fernsehwerbung ist Parteien in Norwegen verboten
Darum geht es bei Stoltenbergs inszenierter Volksnähe nicht. Dazu hätte er ohnehin dank Beratern und Demoskopen alle Möglichkeiten. Bei Stoltenberg geht es um eine erfolgreiche Inszenierung. In Norwegen ist Parteien Fernsehwerbung verboten. Doch jetzt schafft es Stoltenberg mit seinem Video, das Verbot erfolgreich zu umgehen und in sozialen Netzwerken hunderttausendfach geklickt zu werden.
Das Boulevardblatt Verdens Gang spricht anerkennend von „Taxi Jens“. Ein Journalist in Oslo sagte der taz, das Video steigere Stoltenbergs Beliebtheit: Er lasse seine eigene Arbeiterpartei, die bei den Wahlen keine großen Chancen hat, weit hinter sich.
In der BBC bezeichnete ein Ex-PR-Stratege Tony Blairs das Video als „gelungenen PR-Coup“. Als damals Blair von seinen Beratern in Londons U-Bahn geschickt worden sei, um Volksnähe zu demonstrieren, hätten die TV-Kameras grimmige Gesichter gesehen. Stoltenbergs Leute hätten die komplette Kontrolle über die Bilder gehabt – und ihn optimal rübergebracht.
Da macht es auch nichts, dass der Ministerpräsident, der nach eigenen Worten acht Jahre nicht mehr am Steuer eines Autos saß, in einer Szene mit dem Automatikgetriebe nicht zurechtkommt und mit einer abrupten Bremsung seinen Fahrgast erschreckt.
Kostenlose Fahrt
In Oslo fragen jetzt kritische Stimmen, wie der Ministerpräsident überhaupt entgegen allen Vorschriften ein Taxi steuern konnte? Gegner sprechen vom „Piraten-Taxi“. Stoltenberg ließ erklären, er habe die Fahrgäste ja kostenlos chauffiert. Wollten in Deutschland wahlkämpfende Politiker Stoltenberg kopieren, müssten sie ohne eigenen Taxischein mit einem Bußgeld rechnen, erklärt ein Verkehrsanwalt der taz. Ebenso das Unternehmen, das einem solchen Fahrer ein Taxi überlässt. „Eine Ausnahme dürfte es nicht geben. Die gibt es ja auch nicht für Fahren ohne Führerschein.“
Autor Sven Hansen fuhr von 1983 bis 1991 ungefähr tausendundeine Nacht lang Taxi in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee