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Das Bayer-Kreuz in Leverkusen Foto: David Klammer

Wahlkampf in LeverkusenKleine graue Maus

Leverkusen steckt in Schwierigkeiten. Die Energiepreise sind hoch, die Firmen kriseln, der Chemiestandort leidet. Eine Hochburg der Rechten wird die Bayer-Stadt dennoch nicht.

H ellgrüne Wände, beiger Linoleumboden und ein flacher Neubau, der noch steril wirkt. Hier soll im April eine Kinderpalliativstation des Klinikums Leverkusen eröffnet werden, die dritte in Deutschland. Im Flur warten Mitte Januar Klinikleitung und -personal, Personenschutz, ein Oberbürgermeister, zwei Lokaljournalistinnen und die taz auf den Gesundheitsminister. Es ist kein klassischer PR-Termin, dennoch ist der Klinikbesuch auch dem Wahlkampf geschuldet.

Noch ist Karl Lauterbach amtierender Gesundheitsminister, der im Wahlkreis 100 (Leverkusen – Köln IV) das Bundestagsmandat für die SPD anstrebt. Fünf Mal ist er seit 2005 angetreten, fünf Mal hat er das Direktmandat gewonnen. Beim letzten Mal erhielt er 45,6 Prozent der Erststimmen.

Sechs Einzelzimmer wird es auf der Station ­geben, jedes mit Zugang zum Garten. Die ­Palliativmedizin funktioniert mit Kindern anders als bei Erwachsenen. Die Kinder kommen hierhin, weil sie an lebensverkürzenden, oft neuromuskulären Erkrankungen leiden, die große Schmerzen oder Atemnot verursachen können. Es geht um hochspezialisierte medizinische Therapien, um Schmerzlinderung. Ein kostspieliges Projekt, das durch Spendengelder von Firmen, Vereinen, Privatleuten gestemmt wird. „Ich war von Anfang an begeistert“, sagt der Gesundheitsminister beim Rundgang durch die Räume. „Es zeigt, dass die Zivil­gesellschaft in Leverkusen funktioniert.“

taz Themenwoche Wirtschaft

Rezession, Stellenabbau, Insolvenzen – ist Deutschland wirklich abgewrackt? Die taz schaut hin und fragt, welche Chancen in der Krise liegen könnten. Alle Texte zum Thema finden Sie hier.

Anschließend besucht er die Pflegeschule des Klinikums, überrascht eine Klasse mit der Frage, welche Form des Lungenkarzinoms am gefährlichsten sei („das kleinzellige“), und greift beim vorbereiteten Buffet zum Nachtisch– „ich esse doch kein Salz, aber Heidelbeeren gehen“. Im Besprechungsraum kommen Fachfragen an den Fachmann: Welche Ideen haben Sie, um solch hochspezialisierte Bereiche zu finanzieren? – „Es braucht eine eigene Leistungsgruppe zur Abrechnung.“ – Wie stehen Sie zur Pflegekammer? „Begrüßenswert.“ Lauterbach redet leise, weiß Antworten. „Wir hatten so viele gute Gesetze schon fertig“, sagt er. „Sie konnten nicht mehr verabschiedet werden, weil die FDP diesen Neuwahlzirkus veranstaltet hat.“ Beim Klassenfoto setzt er sich locker auf den Tisch. „Schön, dass Sie hier sind“, sagt er zu den jungen Menschen. „Wir brauchen jede Pflegekraft.“

Leverkusen ist eine der kleineren Großstädte Deutschlands

Die taz fragt: Herr Lauterbach, Sie treten ohne sicheren Listenplatz an. Wie erklären Sie sich Ihren bisherigen Erfolg? – „Ich mache eine intensive Wahlkreisarbeit. Die Leute wissen, dass ich mich wirklich kümmere. Ich werde gewählt, weil ich fleißig bin.“ – Hat die AfD hier Chancen? – „Das ist ein demokratisches Pflaster. Klar gibt es auch AfD-Wähler. Aber die Menschen wissen, wer für sie einsteht. Wir sind Kümmerer“, antwortet er.

Leverkusen ist eine der kleineren Großstädte Deutschlands, mit 170.000 Ein­woh­ne­r*in­nen und bekannt durch seinen Fußballverein, den Chempark und das in 120 Meter Höhe aufragende Bayer-Lichtkreuz, das bei Nacht von den zwei durch die Stadt führenden Autobahnen sichtbar ist. Die Konzernzentrale befindet sich auch heute noch in Leverkusen, auf halber Höhe zwischen Köln und Düsseldorf gelegen, auch wenn Bayer seine Produktionsstandorte längst ins In- und Ausland verlagert hat. Die chemische Industrie steckt in der Krise und die Stadt Leverkusen auch.

Karl Lauterbach betreibt Wahlkampf nahe dem Markt in Leverkusen-Opladen Foto: David Klammer

Die heikle wirtschaftliche Situation trifft die energieintensive Chemiebranche besonders. Bislang ist Leverkusen gewerkschaftlich und sozialdemokratisch geprägt. Bei den Bundestagswahlen 2021 lag die SPD mit 29,1 Prozent der Zweitstimmen deutlich vor der CDU (21,7), die FDP erzielte mit 10,4 Prozent weit mehr Stimmen als die AfD (7,2), die Grünen rangierten bei 19,2 Prozent. Wird die demokratische Mitte stabil bleiben oder rückt auch hier alles nach rechts?

Wir brauchen in Deutschland einen Industriesteuersatz, um international wettbewerbsfähig zu bleiben

Uwe Richrath, Oberbürgermeister

Im August 2024 verfügte der Rat der Stadt Leverkusen eine Haushaltssperre. 285 Millionen Euro fehlten der Stadtkasse, weil durch die gesunkenen Gewinne der Chemiefirmen und den Einbruch der Aktienkurse von Bayer nach der Übernahme des US-Agrarkonzerns Monsanto die Gewerbesteuereinnahmen ausblieben. Zudem hatte man mit der Verlegung der Zentrale des Axa-Konzern nach Leverkusen gerechnet, die dann nicht stattfand. Man hat sich verrechnet, verkalkuliert, man hat es schwer. Steuervorauszahlungen müssen zurückerstattet und Kredite weiter bedient werden, Zinsen fallen an. Die Stadt fordert von Bund und Land, ihr die Altschulden zu erlassen.

Dann rutschte Bayer immer tiefer in die roten Zahlen

2021 hatte Leverkusen die Gewerbesteuer, ähnlich wie die Nachbargemeinde Monheim, deutlich gesenkt. Wäre nicht jetzt eine Erhöhung angebracht? „Das bringt überhaupt nichts“, sagt Leverkusens Oberbürgermeister Uwe Richrath. „Ist eine Zitrone ausgepresst, kann ich noch so viel pressen, da kommt nichts raus.“ Nach Einführung des neuen Steuersatzes hätten sich „die Einnahmen trotz Reduzierung des Steuersatzes verdoppelt“, weil Firmen vermehrt nach Leverkusen zogen. Doch dann rutschte Bayer immer tiefer in die roten Zahlen, es folgten der russische Überfall auf die Ukraine und die Energiekrise.

„Leverkusen hat einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, in Deutschland industrielle Wertschöpfung stattfinden zu lassen“, sagt Richrath, der die taz im fünften Stock des Rathauses empfängt, einer gläsernen Rotunde, die eine Mall krönt. „Das hat die Stadt nie wertgeschätzt bekommen.“ Er setzt den Satz hinzu: „Wir waren immer die graue Maus.“ Richrath, 64 Jahre alt, gebürtiger Leverkusener, ist ein SPD-Mann. Am Vortag war er noch in Dublin. Die Schnelligkeit, mit der in Irland auf technologische Entwicklungen reagiert wird, imponiert ihm. „Wir brauchen in Deutschland ebenfalls einen Industriesteuersatz, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.“

Der Oberbürgermeister hat Erwartungen an eine neue Bundesregierung. Ein Industriestrompreis würde die Unternehmen entlasten. „Es geht um Überbrückung“, sagt Richrath, „nicht um langfristige Subventionierung.“

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Die Chemiebranche stellt Verbundstoffe her, ist Teil einer Wertstoffkette, die sich zuarbeitet und am Laufen gehalten werden muss. Auch die Chemparks selbst sind ein Verbund – Leverkusen hängt mit denen von Dormagen und Uerdingen zusammen. „Bricht ein Glied aus der Kette weg“, sagt Richrath, „bricht die ganze Kette zusammen.“ Man beneidet Richrath nicht um diesen Job. Doch er will im September bei den Kommunalwahlen zum dritten Mal für das Amt des Oberbürgermeisters kandidieren.

Als Chemiestadt ist Leverkusen nicht mehr so dreckig

Als Chemiestadt ist Leverkusen nicht mehr so dreckig wie früher. Gefahren bleiben: 2021 explodierte ein Tank im Entsorgungszentrum des Chemparks. Sieben Menschen starben. Statt eines Big Player sind dort heute „vier große“ Firmen – Bayer, Covestro, Lanxess und Currenta – ansässig, daneben viele kleinere Betriebe. Rund 30.000 Menschen arbeiten im Chempark, ein Fünftel davon bei Bayer. Der Konzern hat seine Vormachtstellung in der Stadt verloren. Außer beim Sport – im vergangenen Jahr holte die einstige Werkself, längst eine GmbH, den lang ersehnten Meistertitel.

Es gab Tariflohn, günstige Kredite, Kultur- und Freizeitangebote, ein Allroundpaket, das es schon lange nicht mehr gibt

Die Namen Bayer und Leverkusen gingen früh eine Verbindung ein. Friedrich Bayer war ein Farbenhändler, der seine Firma 1895 von Elberfeld nach Wiesdorf am Rhein umzog. Dort tat er sich mit dem Alizarinrot-Hersteller Carl Leverkus zusammen, auf den der Ortsname zurückgeht. Bayer war früh aktiv in der medizinischen Forschung, 1899 kam Aspirin auf den Markt. Nach dem Ersten Weltkrieg büßte der Konzern Teile seines Vermögens ein und ging 1925 in der IG Farben auf. Während des Nationalsozialismus beschäftigte das Unternehmen Zwangsarbeiter – insbesondere in Buna-Monowitz bei Auschwitz. Die Verantwortlichen wurden bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verurteilt. 1952 gründete sich Bayer neu. Heute hat die Firma weltweit 100.000 Beschäftigte, von denen nur 6.400 Menschen in Leverkusen arbeiten.

„Ich weiß noch, wie in meiner Kindheit die roten Fahrräder um 16 Uhr alle auf einmal aus der Fabrik kamen“, erzählt Norbert Löffler, der 44 Jahre bei Bayer im Werkschutz und jahrelang als Betriebsrat arbeitete. „Mein Vater war auch dabei.“ Rot waren die Werksräder von Bayer, mit einer doppelten Querstange, und wenn die untere gelb war, durfte man das Werksgelände damit verlassen. Aufgewachsen ist Löffler in den Leverkusener „Kolonien“, den Anfang des 20. Jahrhundert entstandenen Werkssiedlungen nach Vorbild englischer Gartenstädte. Drei Kolonien und die Beamtensiedlung gab es, aber auch Villen für die Doktoren und Direktoren – die Werkshierarchie fand sich in der Anlage der Siedlungen wieder.

Es war ein paternalistisches, dennoch fortschrittliches Konzept, das für die Beschäftigten und ihre Familien Sorge trug. Ein Bild der Lebensumstände in den 1920er und 30er Jahren kann man sich im „Koloniemuseum“ machen, einem Wohnhaus von 1904, wo Löffler den Besuch durch die Räume führt. „Die Küche war der größte Raum“, zeigt Löffler, „so kenne ich es noch aus meiner Kindheit.“ Nebenan liegt die kleinere „gute Stube“, die selten beheizt wurde. Im Keller ein Waschzuber, eine Handschleuder, Werkzeugbank und Einmachgläser. Die Schlafräume finden sich im ersten Stock, darüber der Dachboden, wo Tabakblätter, die man im Garten anbaute, getrocknet und gerollt wurden.

Norbert Löffler ist in Rente und engagiert sich ehrenamtlich im Kolonie­museum Foto: David Klammer

Das Museum wird ehrenamtlich betrieben; die Stiftung Vivawest des heutigen Eigentümers trägt die laufenden Kosten. Warum engagiert sich Löffler, seit Juni in Rente, im Verein? „Mir ist wichtig, das Soziale an Bayer zu bewahren“, sagt der 65-Jährige. „Der Konzern hat den Bewohnern dieser Stadt Geborgenheit gegeben.“ In Leverkusen existierten: ein Bayerkaufhaus, Bayerschwimmbad, Bayerkindergarten und -lesehalle, das Erholungshaus mit Park, das gleich gegenüber liegt. Der Konzern prägte Arbeit, Wohnen und Freizeit: „Mutter Bayer“ sagten die Menschen früher. Es gab Tariflohn, günstige Kredite, Kultur- und Freizeitangebote, ein Allroundpaket, das es schon lange nicht mehr gibt.

Es gibt Nostalgiker im Team

Sind Leute im Verein deswegen unzufrieden mit der Politik? „Die Wahl war bisher kein Thema“, sagt Löffler. „Wir reden nicht über Politik, nicht über Sport, nicht über Religion.“ Man sammelt Fotos, Erinnerungsstücke, plant Ausstellungen. Es gibt Nostalgiker im Team, sagt Löffler. Er gehöre nicht dazu. „Das Museum ist für mich“, sagt Löffler, „ein Ausflug in die Kindheit. Es war nicht alles schön. Man soll auch sehen, wie entbehrungsreich die Menschen früher gelebt haben.“

Den Kauf von Monsanto hält Löffler für einen „großen Fehler“. 2018 übernahm der Weltmarktriese den US-Konzern Monsanto, der das glyphosathaltige Unkrautvernichtungsmittel Roundup im Programm hatte. Bayer erbte damit eine Flut von Klagen, musste Milliarden Dollar an Prozesskosten und Entschädigung zahlen. Weitere Verfahren laufen. Die Bayer-Aktie verlor in den letzten zehn Jahren mehr als 80 Prozent ihres Werts. Die Unternehmensleitung kündigte einen „erheblichen“ Stellenabbau in der Verwaltung an: Abfindungen für alle, die freiwillig gehen. Dynamic Shared Ownership (DSO) nennt sich die Strategie.

Der Bayer-Gesamtbetriebsrat hat der bis Ende 2026 geltenden Betriebsvereinbarung zugestimmt. Ob es danach betriebsbedingte Kündigungen geben wird, ist offen. Der Bayer-Gesamtbetriebsrat lehnte zwei Anfragen der taz für ein Gespräch ab. „Derzeit konzentrieren wir uns bezüglich Kommunikation auf den internen Austausch“, schreibt Betriebsrat Frank Rösch.

„Wir merken, dass die Zeiten schwieriger werden“, sagt Nina Melches, Bezirksleiterin der Chemiegewerkschaft IG BCE, die in roter Gewerkschaftsjacke in einem Besprechungsraum am Leverkusener Sitz empfängt. Der schleichende Stellenabbau begleite die Gewerkschaft schon lange. „Für uns ist aber neu, dass betriebsbedingte Kündigungen nach 2026 nicht mehr ausgeschlossen sind. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass es zu denen nicht kommen wird.“

Nicht nur Bayer, auch andere Firmen des Chemparks stecken in Schwierigkeiten. Der saudische Ölkonzern Adnoc will den Polymerhersteller Covestro kaufen. Die Übernahme läuft, es gebe eine Zusage, den Leverkusener Standort nicht aufzugeben, sagt Melches. Die Gewerkschafterin erinnert sich an die Zeit kurz vor Corona. „Da galt das Thema Transformation als Möglichkeit, den Wirtschaftsstandort nach vorne zu bringen. Und dann sind sämtliche Krisen passiert“, sagt sie bedauernd. Die Euphorie ist verflogen, wichtige Investitionen sind ausgeblieben, der Aufschwung fand nicht statt. Melches ist wichtig: „Der Punkt Transformation wird in Politik und in Gesellschaft häufig nur an der ökologischen Transformation festgemacht. Die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte werden sträflich vernachlässigt.“

Was melden ihr die Betriebsräte aus den Belegschaften zurück? „Mehr Unverständnis für die Politik und wachsende Fremdenfeindlichkeit“, sagt Melches. „Die Gesellschaft ist polarisiert, das spiegelt sich auch in unserer Mitgliedschaft wider. Ob mir das gefällt? Nein.“ Hinter Melches hängt ein Plakat, das sagt: „Die AfD ist keine Alternative“.

Ein Donnerstag in Opladen, einem bürgerlichen Viertel Leverkusens. Grüne, FDP und SPD haben mit kleinen Ständen zwischen Fußgängerzone und Wochenmarkt Position bezogen. CDU und AfD sind nicht vertreten. Es ist der 23. Januar, und am Vortag hat ein afghanischer Asylbewerber in Aschaffenburg ein Kind und einen Mann erstochen. Unter den Vorübergehenden scheint es noch kein Thema zu sein. Nur ein Helfer am SPD-Stand sagt: „Mit dem Attentat ist das Thema Abschiebung zurück.“ Er wird ja so recht haben.

Seit 9 Uhr morgens am Stand

Grünen-Kandidatin Nyke Slawik steht bereits seit 9 Uhr morgens am Wahlstand, einem umfunktionierten Lastenrad. Buntstifte und zwei verschiedene Flyer liegen aus. Slawik bietet einer Passantin einen mit Noch-Vizekanzler Robert Habeck zum Mitnehmen an, „da steht auch was Inhaltliches drin“. Ein Wahlhelfer scherzt: „Du gehst aber besser.“ Slawik, 31, ist Opladenerin und 2021 über einen Listenplatz in den Bundestag eingezogen. Eben hat sie mit einem Cannabispatienten über seine Befürchtung gesprochen, die Regelung könne rückgängig gemacht werden. Wohnungsmarkt, Verkehrsplanung sind die lokalen Themen. Mit Karl Lauterbach hat sie gemeinsam einen Brief an Noch-Verkehrsminister Volker Wissing geschrieben, es geht um „Tunnel statt Stelze“. Kein überirdischer Autobahnbau ist ein Thema, das die Leverkusener Stadtgesellschaft eint.

Wie schätzt die Grüne die wirtschaftliche Situation der Stadt ein? Auch von ihr hört man, was in Leverkusen alle sagen: „Der Industriestrompreis ist die zentrale Frage, weil die Chemieindustrie sehr energieintensiv ist. Sie ist als Grundstoff­industrie der große Zauberkasten. Hier werden Verbundstoffe produziert, die überall drin sind und vieles zusammenbinden, auch für Windenergieanlagen.“ Slawik verweist auf die Gesetzesvorhaben, die man in der Koalition nicht durchgebracht habe. Investitionsfonds, Reformierung der Schuldenbremse.

Auch die Grünen-Kandidatin Nyke Slawik ist in Opladen anzutreffen Foto: David Klammer

Währenddessen sind zwei Polizeilimousinen eingetroffen, sie bilden die Vorhut zu der schwarzen Limousine, aus der eine halbe Stunde später Karl Lauterbach steigt. Es bildet sich ein kleiner Schwarm am Stand, eine Frau in Schwesterntracht will ihm „einfach danken“, ein Mann fragt, wie er beim AfD-Verbotsantrag abstimmen will, eine Dame schildert das Schicksal ihres schwerstbehinderten Enkels, für den die höchste Pflegestufe nicht reiche. Die Menschen möchten ihre Anliegen loswerden, überzeugen lassen wollen sie sich nicht. Drei ältere Männer lehnen eine Einladung zum Gespräch ab. „Der soll doch auf mich zukommen“, sagt einer von ihnen. „Wir sind froh, dass diese Regierung endlich weg ist. So ein Chaos! Ich habe immer Scholz gewählt, aber jetzt nicht mehr.“ Die AfD werde er trotzdem nicht wählen, setzt er noch dazu.

Oberbürgermeister Uwe Richrath hatte geäußert, er fürchte weniger, dass die Menschen nach rechts abdriften, als dass sie gar nicht zur Wahl gehen. Die Wahlprognosen für ganz NRW sehen für die SPD schwarz. Wenn die lang eingeübte Sozialpartnerschaft zwischen Firmen und Gewerkschaften, Kommune und ihren Bildungs- und Sozialeinrichtungen nicht hält, dürfte der politische Unmut auch hier wachsen und Konservativen wie Populisten Stimmen bescheren.

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) betreibt in den sozialen Brennpunkten Offene Ganztagsschulen, trägt Familienzentren, macht Flüchtlingsarbeit. Petra Jennen vom Kreisvorstand der AWO Leverkusen geht Ende Februar in Rente. Sie sagt offen am Telefon: „Ich fürchte sehr um den sozialen Frieden in der Stadt.“ Aufgrund der Haushaltssperre würden im ersten Quartal alle laufenden Verträge neu geprüft. „Unsere Arbeit ist in den letzten Jahren immer schwerer geworden.“ Anträge werden wegen fehlenden Personals in der Stadtverwaltung nicht bearbeitet oder entschieden. Wohin das führt, erklärt Jennen am Beispiel der Sozialhilfefälle in den Altenheimen der AWO. Solange die Betroffenen keinen amtlichen Bescheid bekämen, würde weder Sozialhilfe gezahlt noch leisteten die Be­woh­ne­r*in­nen privat ihren Beitrag. „Wir haben Außenstände von 350.000 Euro. Wir strecken das vor. Als kleiner Träger wären wir längst platt.“ Dass die Kommune kein Geld hat, will sie so nicht gelten lassen. „Geld ist da, man muss es nur anderswo reinstecken“, sagt Jennen.

Die Stadt bestätigt eine „Prüfung und Neuaufstellung des Haushalts“. Begonnene Baumaßnahmen für Kitas, Schulen und Quartierseinrichtungen würden fortgeführt. Bei Kultur und Sport sei seit 30 Jahren „ein schleichender Rückzug“ der Bayer-Förderung zu verzeichnen. Dennoch arbeitet man eng mit der Kulturabteilung des Konzerns zusammen, die gerade die Leverkusener Jazztage gerettet hat. Das Wort „Rückzug“ hört deren Leiter Thomas Helfrich nicht gern. „Wir fördern nur anders als früher, weniger nach dem Gießkannenprinzip. Aber wir investieren jährlich immer noch eine Summe im mittleren einstelligen Millionenbereich.“ Der angekündigte Verkauf von Teilen der Kunstsammlung habe nichts mit der schwierigen finanziellen Situation des Konzerns zu tun, erklärt Helfrich. „Das Geld fließt zurück in die Kulturförderung.“ Er verstehe die Problemlage der Stadt, aber warum man nicht mal bei den anderen großen Firmen nachfrage.

Die Zeiten von „Mutter Bayer“ sind vorbei. Die lassen sich allerdings im Koloniemuseum besichtigen.

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5 Kommentare

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  • Die zentrale Frage bleibt: Wird Leverkusen es schaffen, seine Wirtschaft zukunftsfähig zu gestalten? Die Abhängigkeit von der Chemiebranche birgt Risiken, aber auch Chancen. Es wird spannend zu sehen, ob politische und wirtschaftliche Maßnahmen greifen oder ob die Stadt weiterhin mit finanziellen Engpässen kämpfen muss.

  • „Wir brauchen in Deutschland ebenfalls einen Industriesteuersatz, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.“

    Hat er sich mit Bayer-Aktien zugedeckt und schreit nach Subventionierung seiner Gewinne?

  • Opladen ist nur bedingt bürgerlich, sondern seit der Eingemeindung Jahr um Jahr abgehängter und absteigender, so nett es eigentlich auch ist. Selbst der "Bahnhof" ist keiner mehr, die Weichen sind fort.



    Beim Wahlkreis sollte man ferner den starken Kölner Teil nicht vergessen.

    Bayer hingegen hat so viele Fehler im neuen US-Stil gemacht, sich auf Lobby gestürzt (aber mit Matthias Berninger??!?), statt auf Innovation, auf Monsanto statt eigener Ingenieurskunst - Bayer hat es sich selbst zuzuschreiben. Und Lauterbach, der fleißige Arbeitersohn, holt den Wahlkreis so klar wie Alonso neulich das Double.

  • Bayer hingegen hat die Zitrone Leverkusen schon seit Langem ausgequetscht, auch als sie schon leer war. Die Alternativlosigkeit eines Unternehmens, das einem die Reihenhaussiedlung und die üppige Rente finanziert, haben die Nachkriegsgenerationen nicht groß infrage gestellt. Auch nicht, wenn der Rhein verseucht, die Mülldeponie angebohrt oder die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen vertuscht wurden. Als die große Zeit der Finanzblasen und der Human Ressources anbrach, vergesellschaftete Bayer seine Verluste, wie es so üblich ist unter denen, die angeblich den Menschen dienen.

    Die Abhängigkeit der Leute ist aber zu groß. Nach außen hin gibt sich Bayer sozial und volksnah. In wessen Halle ich Sport mache, der kann ja nicht schlecht sein. Und der Fußballclub - so erleichternd für Fußballdeutschland und für die Leverkusener Fans die Meisterschaft war - ist ein "Geschenk Gottes" für den Konzern. Das alles zu hinterfragen ist dem Durchschnittsleverkusener kaum möglich. Damit steht Lev. eigentlich sinnbildlich für Deutschland. Das Beste, was hier möglich ist, ist die SPD. Ist Bayer die Brandmauer? Oder das Geschwür, das man nicht operieren kann? Herr L. übernehmen Sie!

    • @Christian Clauser:

      Eine ideologisch geprägte Einschätzung, die nicht nur die Realität sondern auch noch andersdenkende Menschen (Durchschnittsleverkusener) ignoriert.