piwik no script img

Wahlkampf in GroßbritannienCorbyn? Oder lieber Brexit?

In Northfield am Rand von Birmingham stand einst das große Autowerk Longbridge. Dort steht das Wahlvolk im Dezember vor klaren Alternativen.

Wohnstraße in Birmingham-Northfield: Dort geht es um Johnson oder Corbyn Foto: Daniel Zylbersztajn

NORTHFIELD taz | Auf der einen Seite eine abgesperrte Riesenfläche zur industriellen Neunutzung. Auf der anderen ein neues Einkaufszentrum, ein Business­park und eine moderne Fachhochschule. Drumherum gepflegte Reihenhäuser aus den 1920er Jahren, einst Teil der Arbeitersiedlung um das seit 2005 nicht mehr bestehende Automobilwerk Longbridge, wo einst 25.000 Menschen arbeiteten.

Die Konservativen wollen den Wahlkreis, wo Longbridge liegt – Northfield am Südzipfel der Großstadt Birmingham – bei den Wahlen erobern. Die Konstellation ist typisch für die Region: Labours Richard Burden ist seit 1992 ununterbrochen der Abgeordnete dieser überwiegend weißen Arbeitergegend, aber 2016 siegte hier der Brexit, und dafür stehen Boris Johnsons Konservative.

Nicht alle hier sind vom konservativen Durchmarsch überzeugt. Mark Harrison, 54, der am alten Industriegebiet ein Geschäft für Bauzubehör hat, will im Dezember sogar zum ersten Mal Labour wählen. „Corbyns seltsame Ideen können nie so schlimm wie der Brexit sein“, sagt er.

Es ist Wahlkampf in Großbritannien – heute in Northfield Infografik: infotext-berlin.de

Ältere Wähler hätten das Brexit-Referendum falsch verstanden: „Sie glaubten, sie würden gefragt, ob sie zu ihrem Land oder zur EU stünden.“ Andere wollten die Einwanderung stoppen – und „nun werden die Rassisten erst recht Menschen kriegen, die sie nicht ­mögen, mit anderen Religionen und Hautfarben“.

Gegen Corby oder gegen Brexit

Zu den „älteren Wählern“ gehören Brenda und James Smith, 79 und 86 Jahre alt. Sie stehen im neuen Einkaufszentrum auf dem ehemaligen Industriegebiet Longbridge. Brenda, sie war einst Krankenschwester, erklärt, warum sie 2016 für den Brexit gestimmt hat. „Es ging mir um ein bisschen mehr Kontrolle, nicht aber darum, ganz aus der EU zu gehen.“

Beide Senioren befürworten mehr öffentliche Investitionen, so wie Labour, doch Parteiführer Corbyn ist Brenda unsympathisch. James stört das weniger: Wichtig ist ihm, dass die EU reformiert wird. „Ich bin Europäer!“ Er wird auf alle Fälle Labour wählen. Brenda muss noch darüber nachdenken.

Wahlkampf in Großbritannien

Zu den Wahlen: Am 12. Dezember wählt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ein neues Parlament. Das Ergebnis wird über die Zukunft des Landes bestimmen: ob der Brexit vollzogen wird oder nicht, davon abhängig eventuell auch, ob der britische Gesamtstaat geeint bleibt oder nicht. Die taz begleitet den Wahlkampf mit einer lockeren Serie von Eindrücken aus unterschiedlichen Wahlkreisen und Milieus.

Man ist hier entweder gegen Corbyn oder gegen den Brexit. Corbyn, sagt der 44-jährige Rob hinter der Theke seines Armeezubehörladens, sei „ein Terrorist, der die IRA unterstützte“. „Ich will ein Punktesystem für Einwanderung, und Investitionen in Erziehung, Gesundheit und Polizei, etwa durch Geld, das Großbritannien nicht mehr an die EU senden muss“, sagt er, als zitiere er das Wahlprogramm der Tories.

Andere Befragte im Stadtzentrum sind noch expliziter. Labour, sagt einer, belohnt nicht mehr die „echten Arbeiter“. Ein anderer traut dem Labour-Wahlversprechen des landesweiten freien WLAN nicht. Und einer dritten spricht Boris Johnson aus der Seele: Den Brexit jetzt endlich zu liefern, das sei genau, was sie wolle.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Zahlen wären was feines gewesen.

    Labour liegt in der letzten Umfrage des Observer bei 28%, die Tories bei 47%. So schlecht wäre keine Wahl mehr für Labour ausgegangen seit Michael Foot '83 gegen Thatcher mit 27,6% verloren hat.

    Natürlich ist das strikte britische Mehrheitswahlrecht ein Faktor, aber auch da gewinnt man keine Wahl mit 19% Rückstand.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Wenn Daniel Zylbersztajn, Auslandskorrespondent in Großbritannien in seinem Artikel die Einstellung von älteren Bürgern - Zitat (Ältere Wähler hätten das Brexit-Referendum falsch verstanden: „Sie glaubten, sie würden gefragt, ob sie zu ihrem Land oder zur EU stünden.“) voran stellt, um ein Verständnis des sogenannten Brexits zu finden, geht diese Erklärung zumindest in die richtige Richtung.

    ""Brexiting"" ist allerdings die größte tiefgreifende Verirrung und folgenreichste Verwirrung die jemals nach WW2 in einem europäischen Land stattgefunden hat.

    Die Ursachen der vielen Verrücktheiten, welche dem Brexiting zugrunde liegen sind vielfältig - das reicht vom Aufbegehren der Zurückgebliebenen -- und einer Revolte der ärmeren Bevölkerungsschichten gegen die herrschenden Tories, zum Beispiel derjenigen, die in den Midlands leben, -- bis zu völlig falsch verstandenen Ängsten, das Europa Einschränkung oder Gleichmacherei bedeutet, hinsichtlich des britischen way of life, also dem, was allgemein als ""Britishness"" verstanden wird. Ein anderes Ventil des Brexiting ist der immer noch tiefsitzende Hang zum Imperialismus, der eindeutig in den desolaten Beziehungen von England zu den Ländern Wales, Schottland und Nordirland leicht zu entdecken ist.

    Cameron hat mit seinem fast tragischen und unbestimmten Referendum, von dem auch nach 3 Jahren Verwirrung und Chaos noch niemand weiß, was das eigentlich bedeutet, den Geist des Ultranationalismus, des Rassenhasses und der völlig unbegründeten Schuldzuweisungen gegen Europa aus der Flasche gelassen.

    Es wird ein Jahrzehnt brauchen um die Argumente des Brexits zu sortieren und um zu einer normalen und rationalen Ursache - und Wirkung Diskussion zurückkehren zu können.

    Die Tories sind für diesen Ungeist zu 100% voll verantwortlich - und das Jeremy Corbyn sich aus dieser Debatte ins Unbestimmte zurück zieht mag kritikwürdig sein -



    wobei seine Reaktion logisch nachvollziehbar und verständlich ist.

  • Irgendwie klüger bin ich nach Lektüre des Artikels nicht; war wohl einfach mal wieder an der Zeit für einen Brexit Beitrag.