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Wahlen in der TürkeiResignation nach Erdoğan-Triumph

Viele Türken haben den Sieg des Herausforderers Muharrem İnce für möglich gehalten. Doch der hat nun das Wahlergebnis akzeptiert.

Nach der Wahl: Auf den Titelseiten der Türkei wird auch weiterhin Erdoğan zu sehen sein Foto: dpa

ISTANBUL taz | Es ist ruhig in den Straßen von Istanbul, geradezu gespenstisch ruhig. Wo gestern noch der Wahlkampf tobte und die Emotionen hochkochten, herrscht heute gähnende Leere. Auf dem großen Platz von Kadiköy, einem der Zentren der Opposition, ist bereits penibel aufgeräumt – die Stadtreinigung hat ganze Arbeit geleistet, außer ein paar zerrissenen Parteiwimpeln in den Bäumen ist von der Wahl nichts mehr zu sehen.

Auch die Menschen scheinen diese Wahl am liebsten zu verdrängen, jedenfalls die, die auf den Sieg der Opposition gehofft haben. Jetzt ist die Enttäuschung riesig. Im Café des Barış-Manço-Kulturzentrums sitzt ein junger Mann, dem anzusehen ist, dass es ihm nicht gut geht. „Ja“ sagt er, „ich hatte auf die Opposition gehofft.“ Meint er, dass die Opposition bei dem knappen Wahlsieg Erdoğans betrogen wurde, rechnet er mit Protesten? „Wissen Sie“, sagt er, „es wird keine Proteste mehr geben. Wir sind so oft vor die Wand gelaufen, jetzt haben wir keine Lust mehr“.

Es herrscht Katerstimmung unter den Anhängern des unterlegenen Kandidaten der Opposition, Muharrem İnce. Noch vor wenigen Tagen hatten Großveranstaltungen mit einem Millionenpublikum in Izmir und Istanbul die Erwartung geweckt, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan dieses Mal nicht so einfach durchkommen würde, dass er wenigstens in eine Stichwahl muss. Als dann am Abend die ersten Ergebnisse mit einem geradezu unglaublichen Vorsprung von Erdoğan bekannt gegeben wurden, machten sich die Leute noch gegenseitig Mut mit dem Hinweis, das sei ja nur eine Manipulation der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı. Die wirklichen Ergebnisse kommen erst noch, hieß es in den Wahllokalen in Kuzguncuk und Beylerbey, beides Hochburgen der CHP.

Doch als es immer später wurde und auch die „Wahlplattform für faire Wahlen“, die im Auftrag der Opposition die Auszählung in allen Wahllokalen landesweit nachprüfte, gegen Mitternacht bestätigte, dass Erdoğan wohl tatsächlich bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen geholt hat, warteten die Leute vergeblich darauf, dass ihr „Held“, der fulminante Wahlkämpfer Muharrem İnce zu ihnen spricht. Doch İnce und die übrige CHP-Führung waren sich offenbar unsicher, ob sie nun gegen das Ergebnis formal Protest einlegen sollten oder lieber noch abwarten, bis das offizielle Endergebnis am Montagvormittag vorliegen würde. İnce entschied sich für das Abwarten und stieß damit viele Anhänger vor den Kopf.

„Bindung zur Demokratie gekappt“

Am Montagmittag begründete er dann sein Verhalten mit der großen Stimmendifferenz zwischen ihm und Erdoğan. „Die Differenz ist so groß, dass wir den Wahlsieg von Herrn Erdoğan anerkennen“, sagte er auf einer Pressekonferenz im Hauptquartier der CHP in Ankara. „Haben sie Stimmen gestohlen“, fragte er rhetorisch. „Ja bestimmt, aber nicht zehn Millionen“, so groß ist die Differenz zwischen İnce und Erdoğan. Die Wahl, bekräftigte İnce noch einmal, war von Beginn ihrer Ankündigung an bis zu ihrer Durchführung eine unfaire Wahl. „Das Land geht nun in eine Herrschaft eines Mannes über. Die Türkei hat ihre Bindung zur Demokratie gekappt.“ Doch İnce will trotzdem nicht aufgeben und weiter für die Rückkehr zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen.

Auch für die neu gegründete und mit vielen Hoffnungen gestartete İyi Parti (Gute ­Partei) und ihrer Kandidatin Meral Akşener war die Wahl eine große Enttäuschung. Statt wie erhofft 20 holte die Partei gerade einmal 10 Prozent und die Präsidentschaftskandidatin Ak­şener landete mit 7,3 Prozent auf dem vierten Platz noch hinter Selahattin Demirtaş von der prokurdischen HDP, die vor allem in den Kurdengebieten im Osten des Landes Stimmen holte.

Ich glaube, ich kann mit diesen Menschen nicht mehr zusam­men­leben

Mustafa, Bäcker

Demirtaş und die HDP dürfen sich dagegen zumindest als kleine Sieger fühlen. Die Partei kam dank zahlreicher Leihstimmen aus der Umgebung der CHP auf 11,6 Prozent und Demirtaş persönlich aus dem Knast heraus auf 8,3 Prozent. Damit ist die HDP erneut mit über 60 Abgeordneten im Parlament vertreten, doch die damit verbundene Hoffnung, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verlieren würde, hat sich nur teilweise erfüllt. Zwar hat die AKP nur noch gut 42 Prozent erreicht, doch die mit ihr verbündete rechtsnationalistische MHP holte 11,2 Prozent und sicherte somit dem Wahlbündnis von AKP und MHP erneut die absolute Mehrheit.

Für die meisten Menschen in Kadiköy wird es schwer, mit diesem endgültigen Durchmarsch von Erdoğan fertig zu werden. Nicht nur mental, sondern auch ganz praktisch. „Ich hatte so große Hoffnungen dieses Mal, doch dieses Volk hat wieder Erdoğan gewählt“, sagt Mustafa, der beste Bäcker im Bosporus-Vorort Kuzguncuk. „Ich glaube, ich kann mit diesen Menschen nicht mehr zusammenleben.“ „Wohin“, fragt er, „soll ich mein Kind jetzt zur Schule schicken. Es gibt ja bald nur noch diese religiösen İmam-Hatip-Schulen“.

Trotz dieser Enttäuschung muss Erdoğan erst einmal nicht mit großen Protesten rechnen. Die Oppositionsparteien sind demoralisiert, und auch in den sozialen Netzwerken erheben sich keine Stimmen, die zum Widerstand aufrufen. Auf dem Bullenplatz in Kadiköy, dem Ort, wo die Opposition sich zu Protestmärschen zu versammeln pflegt, steht nur ein einsamer Fahnenverkäufer. Die Partei­flaggen hat er bereits aussortiert, es gibt nur noch die Türkeifahne und die Flagge des Fußballvereins Fenerbahçe. „Egal wer regiert“, sagt er, „Türkei und Sport geht immer.“

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4 Kommentare

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  • Warum wird eigentlich weder in der taz, noch in anderen Medien die Wahlbeteiligung erwähnt?

    Unter den in Deutschland lebenden Wahlberechtigten waren es rund 45%. Wie hoch war sie in der Türkei? Vielleicht erklärt eine geringere Wahlbeteiligung in Deutschland das gute Ergebnis für Erdigan.

    Unter meinen türkischen Arbeitskollegen (ohne deutschen Pass) gab es auch die Angst, dass ihnen der Pass abgenommen wird, wenn sie zur Wahl die Botschaft der Türkei betreten. Dann würden sie in Deutschland ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert bekommen, weil sie dann weder einen deutschen, noch türkischen Pass besitzen würden. Ob die Befürchtung eine Berechtigung hat, kann ich nicht beurteilen. So, wie sich einige der Kollegen über Erdogan geäußert haben, kann ich die Furcht verstehen.

  • Die Türkei ist jetzt eine Diktatur und es wird ab und zu mal ein wenig Debatte im Parlament geben. Aber die AKP ist auch eine durch und von Erdogan komplett gesteuerte Partei geworden.

     

    Unter solchen Bedingungen liegt die Macht direkt bei einem Menschen, Erdogan.

     

    Wer sich den Sturz des Shahs ansieht, der erkennt schnell das Muster: Alleinherrscher werden irgendwann gestürzt. Sie schaffen Armut, Unsicherheit, Unterdrückung, politische Gefangene und ein Klima der Angst - zudem stellen sie eine hemmungslose Clique von Profiteuren her, die sich an allem bereichern, was es gibt.

     

    So wird das auch in der Türkei in Zukunft noch viel deutlicher ans Licht kommen, auch wenn darüber niemand mehr berichten kann.

     

    Nun mag Erdogan Geld leihen, wie ein Verrückter und ein Wachstum über den Bausektor erzwingen, aber die Türkei ist abhängig von der EU und Hilfen des Westens. Dazu kommt noch der Tourismus, der eine friedliche, liberale Stimmung braucht.

     

    Diesen Tourismus und viele Hilfe wird die Türkei Stück für Stück verlieren, denn die negative Menschenrechtsbilanz lässt sich gegenüber dem Ausland nicht ewig verheimlichen.

     

    Schon jetzt sitzen Tausende Menschen in Gefängnissen und ein großer Teil von ihnen gehört zur HDP. Aber es werden auch Anhänger von Iyi Parti, CHP und Saadet künftig in die Knäste gebracht, weil so ein Regime ohne Toleranz auskommen muss.

     

    Und nach Syrien zieht es Erdogan ja auch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Stück Syrien unter türkische Kontrolle gebacht wird, damit Erdogan einen Teil der syrischen Flüchtlinge dorthin deportieren kann.

     

    Wahrscheinlich sind die Konsequenzen der Wahl für die syrischen Kurden am allerschlimmsten. Ihnen drot Genozid, Vertreibung und Plünderung.

  • Ist Erdogan so schlecht, wie die deutschen Medien ihn machen?

     

    Es gab in der Türkei Militärputsche in den Jahren 1960, 1971, 1980, 1997 und zuletzt 2016. Es ist also nicht so, dass die Türkei vor Erdogang immer eine "lupenreine" Demokratie war. Man könnte fast weitausholen und sagen, indem Erdogan die Macht des Präsidenten erweitert hat, hat er schlussendlich die Macht des Militärs begrenzt. Er könnte die Türkei näher an eine Zivilgesellschaft gerückt haben, die sich nicht mehr dem Diktat des Kemalismus unterordnen muss. Den ein schwacher Präsident kann in gewißer Hinsicht für die Generäle eine Steilvorlage zum Putsch sein, wenn es mal nicht so "gut" läuft.

     

    Erdogan hat es in gewisser Hinsicht auch geschaffft, dass den religösen Kräften mehr Macht und Öffentlichkeit zukommt ohne dem weltlichen Leben abzusagen und Fundamentalismus die Tür zu öffnen.

     

    Erdogan hat auch im vgl. zu seinen Vorgängern viel für die Rechte der Kurden usw. getan (auch wenn natürlich immer noch viel Luft nach oben ist).

     

    Mag sein, dass alles oben gesagte total falsch ist, aber ich bin der Überzeugung, dass das Erdogan Bild, dass wir als Deutsche haben etwas einseitig ist. Die Deutsch-Türken leben in einer Demokratie und schätzen diese sehr. Sie sind informiert, was in der (Ex-)Heimat vor sich geht. Auch sind die Deutsch-Türken sich der vielen Verhaftungen bewußt und haben vll. sogar Verwandte/Bekannte die (indirekt) betroffen sind. Warum sollten sie für einen vermeintlichen Diktator stimmen?

    • @rujex:

      Herr Ince ist ein Mann, der eine gewisse Weitsicht an den Tag gelegt hat, in dem er die Wahl Erdogans akzeptierte und somit verhindert hat, dass es zu Ausschreitungen gekommen ist.

      Sein Nachdenken, dass Erdogan eben nicht die Differenz von 10 Millionen Stimmen durch Wahlfälschung erlangt haben kann, zeugt von echter Größe!

       

      Warum so viele Türken Erdogan gewählt haben, kann man eigentlich kaum rational erklären, denn die offen gezeigte Missachtung der Menschenrechte durch das Einsperren so vieler Medienvertreter und politische Gegner zeugt doch eigentlich von seiner Unfähigkeit eine echte Demokratie zu zulassen!

       

      Auch die Versuche all seine Fehler, welche er im Laufe der Jahre gemacht hat, immer wieder weit von sich zu schieben und sogar ausländische Regierungen der Verschwörung gegen die Türkei zu bezichtigen kann doch eigentlich niemand so ohne darüber Nachzudenken als ungeschehen deklarieren, oder?

       

      Wie man allerdings in der Geschichte des 20. Jahrhunderts sehen konnte, wurden von den angehenden Diktatoren immer wieder die gleichen Regularien befolgt, um ihre Untertanen bei der Stange zu halten oder von sich zu überzeugen!

       

      Kurzfristige Unternehmungen zur Erhöhung der Wirtschaftsleistung des Einzelnen und der Volkswirtschaft, aber teuer durch Unternehmungen im eigenen Land erkaufte, nicht besonders nachhaltig finanzierte Tätigkeiten, Ausschaltung der Opposition, suche eines Feindbildes im Innern und in der Außenpolitik!

      Da hat sich Erdogan ja besonders auf Deutschland und sie EU, sowie die USA eingeschossen, im Innern waren es die Gülenisten und die Kurden, die er nun sogar in Syrien mit Krieg überzieht!

       

      Sein Kalkül ist auf gegangen, weil er echte Wirtschaftserfolge aus der Zeit seiner Demokratiephase vorweisen konnte, welche er allerdings inzwischen wieder beginnt zu verlieren.

       

      Dieser beginnende Verlust hat auch dafür gesorgt, dass er die Wahlen zu seinen Präsidialsystem vorziehen musste, sonst wären ihm seine Anhänger wohl doch weggelaufen!!!