Wahl in Venezuela: Wie viel Staat darf es sein?
Die Wirtschaft ist am Boden, die Venezolaner sind unzufrieden und die Opposition uneins. Doch die Regierung ist hilflos.
Ihre AnhängerInnen glauben so sehr an den Sieg, dass eine Niederlage nicht einkalkuliert ist. Auch der sonst zurückhaltende ehemalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles gibt sich siegessicher. „Ein Sieg der Regierung ist unmöglich.“ Doch die Anzeichen mehren sich, dass es am Ende knapp werden könnte.
Zentrales Wahlkampfthema war lange die seit über zwei Jahren anhaltende katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage. Doch seit dem Mord an dem Lokalpolitiker Luis Manuel Díaz von der oppositionellen sozialdemokratischen Partei Acción Democrática überschattet die Gewalt den Wahlkampf. Luis Manuel Díaz war am 26.November bei einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat Guárico auf der Bühne erschossen worden.
Wenige Meter neben Díaz stand Lilian Tintori, die Ehefrau des inhaftierten Oppositionspolitikers Leopoldo López von der rechtskonservativen Partei Voluntad Popular (Volkswille). Auch wenn sie nicht kandidiert, hat sich Tintori seit der Verhaftung ihres Mannes im Februar 2014 zu einer führenden Figur des harten Flügels der Opposition entwickelt.
Das Dilemma der Opposition
Doch gerade in ihr spiegelt sich das ganze Dilemma der Opposition. Sie ist weder Politikerin noch Wirtschaftsexpertin, außer der Forderung nach dem Abgang der Regierung von Präsident Maduro und der Freilassung der 2014 inhaftierten Oppositionellen bietet sie keine Alternative zu den regierenden Chavistas.
Der kleinste gemeinsame Nenner des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit ist die Ablehnung der chavistischen Regierung und ihres Präsidenten Maduro. Schon bei der Frage, wie Regierung und Präsident aus ihren Ämtern scheiden sollen, regiert die Uneinigkeit. Der harte Flügel um María Corina Machado, Leopoldo López und Antonio Ledezma setzt auf den Druck der Straße.
Dieses zeigte sich offen im Januar 2014, als die drei zum Gang auf die Straße aufriefen und so die Protestwelle des vergangenen Jahres mit anstießen. An deren Ende 43 Menschen tot waren, über 600 verletzt und 3.500 verhaftet wurden – die Regierung aber saß fest im Sattel. Die Mobilisierungskraft des harten Flügels der Opposition ist heute deutlich geschwächt.
Machado wurde aus der Nationalversammlung geworfen, López zu fast 14 Jahren Haft verurteilt und Ledezma steht gegenwärtig vor Gericht und unter Hausarrest. Als wählbare Alternative hat dieser Teil der Opposition für die breite Masse nichts anzubieten.
Die angebliche Bombe
Wer wählt: Bei der Wahl zum Nationalparlament entscheiden am Sonntag 19,5 Millionen Stimmberechtigte über die Vergabe von 167 Sitzen.
Wie wird gewählt: In Venezuela gibt es eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl. In 87 Wahlkreisen werden 113 Abgeordnete direkt gewählt, in einigen Wahlkreisen wird mehr als ein Mandat vergeben. Den Einzug schafft, wer in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält. 51 Sitze werden über die Liste vergeben. Drei Mandate sind für die indigenen Minderheiten reserviert.
Die Parteien: Zwei Blöcke stehen sich gegenüber: Der regierenden Gran Polo Patriótico (GPP), bestehend aus 32 Einzelparteien unter der Führung der alles dominierenden Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV). Und der „Tisch der Einheit (Mesa de Uniad, MUD), einem Bündnis aus 21 Parteien. Zudem stellen sich einige kleinere unabhängige Parteien und KandidatInnen zur Wahl.
Besonderheiten: In einigen Wahlkreisen bestehen erhebiche Unterschiede bei der Anzahl der Wahlberechtigten. Doch auch wer landesweit die meisten Stimmen erhält, stellt im Parlament nicht unbedingt die Mehrheit. (juevo)
Bleibt der gemäßigte Flügel um Henrique Capriles. Auch der hatte es im Wahlkampf vermieden ein alternatives Projekt zur Abstimmung vorzustellen. Stattdessen erging er sich in allgemeinen Aussagen, wie Venezuela sei eine Bombe, die jederzeit explodieren könne und die Wahl am Sonntag sei ein Ventil, um den Druck zu mildern.
Schaut man auf die Wirtschaftsdaten, kommt jedoch tatsächlich nichts anderes als eine Wahlschlappe der regierenden Chavistas in Frage. Für die bereits arg gebeutelte Ökonomie rechnet die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik mit einem weiteren Einbruch von sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die Inflationsrate könnte schon bald die 200-Prozent-Hürde überspringen und die Devisenknappheit treibt den Verfall der heimischen Währung immer schneller voran. Hinzu kommt die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten, die sich wegen der fehlenden Devisen in einer sich ausdehnende Leere in den Regalen und langen Schlangen vor den Supermärkten ausdrückt.
90 Prozent der staatlichen Einnahmen stammen aus dem Ölgeschäft. Im Staatshaushalt klafft mittlerweile ein riesiges Loch, denn der Etat wurde auf der Basis eines Ölpreises von 60 Dollar pro Fass erstellt. Nach Angaben des Erdölministeriums erreichte das Fass Öl Ende November seinen bisherigen Tiefstand von knapp 35 Dollar.
Auch wenn das OPEC-Mitglied Venezuela mit seinen täglich rund 3 Millionen Fass Öl nach wie vor an fünfter Stelle der wichtigsten Erdölexportländer liegt und davon etwa 2,5 Millionen Fass vor allem an die in die USA und China verkauft, gab Präsident Maduro Anfang November bekannt, dass die Deviseneinnahmen aus dem Ölgeschäft im laufenden Jahr um 64 Prozent zurückgegangen sind.
Anfang des Jahres kam in Griechenland Syriza an die Macht. Unsere Reporterinnen haben seitdem vier AthenerInnen begleitet. Was sich in ihrem Leben geändert hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 5./6. Dezember 2015. Außerdem: Unsere Autorin besucht ihr altes Viertel, das jetzt eine Islamistenhochburg sein soll. Und: Die Künstlerin Mia Florentine Weiss über Mutterschaft und Krieg. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Regierung ist hilflos
Keine Regierung der Welt könnte einen solchen Einbruch vertragen. Doch die Reaktion der Regierung Venezuelas vermittelt vor allem eines: Hilfslosigkeit. In Sachen Wirtschaft ist Nicolás Maduro zum Ankündigungspräsidenten verkommen. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er nicht neue Initiativen und neue Kommissionen ankündigt, von denen die wenigsten um- oder eingesetzt werden.
Das prominenteste Beispiel dafür ist der Benzinverkauf im eigenen Land. Das Trinkgeld für den Tankwart liegt meist über dem Preis für den vollen Tank. Zaghaft hatte Maduro eine Debatte über den Benzinpreis angekündigt und über dessen Anhebung die Staatskasse entlastet werden sollte. Passiert ist nichts.
Alle außenpolitischen Versuche von Maduro, die OPEC zu einer Senkung der Förderquoten zu bringen, um so den Preisverfall zu stoppen, sind gescheitert. Gebetsmühlenartig wird der Wirtschaftskrieg der rechten Bourgeoisie als wesentlicher Grund für die Misere gegeißelt. Ebenso der Schmuggel von subventionierten Lebensmitteln und Benzin in die Nachbarländer. Beides ist keine pure Propaganda. Die staatliche Subventions- und Währungspolitik bietet beim illegalen Handeln und Horten immense Profite. Weshalb seit Anfang September die Grenze zu Kolumbien geschlossen ist. Offen ist, wie lange und in welcher Form sich der venezolanische Staat seine Subventionspolitik überhaupt noch leisten kann.
Kein Wunder, dass der Opposition ein hoher Sieg vorhergesagt wird. Oscar Schémel sieht dies anders. Der Leiter des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces beobachtet bei der Sonntagsfrage einen ganz anderen Trend: „Der Chavismus ist der einzig wachsende Wahlteilnehmer, die Opposition tritt auf der Stelle, in einigen Wahlbezirken hat sie sogar Verluste.“ Schémel prognostiziert einen äußerst knappen Wahlausgang, bei der zukünftigen Sitzverteilung könnte die Regierung sogar die Nase vorn haben.
Vorsichtige Annäherung
Warum? Der Chavismus habe die Gesellschaft nachhaltig verändert, er habe den hegemonialen Kampf um die Ideen gewonnen. „Venezuela ist kulturell und politisch chavistisch“, so Schémel. Und auf dieser Grundlage stelle die Opposition keine Alternative vor, mit der sie eine Mehrheit für sich mobilisieren könnte. Die Stimmen, die sie holt, sind die Stimmen der Unzufriedenen.
Zwar sei die Wirtschafts- und Versorgungslage das entscheidende Thema, aber auf die Frage, ob Präsident Maduro die Probleme lösen soll oder eine Regierung der rechten Opposition, würden 60 Prozent Maduro vorziehen. Über 70 Prozent der Venezolaner wollten eine gemischte Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und einen starken Staat als Regulator. Die Mehrheit definiere sich als sozialistisch und humanistisch, sehe diese Werte als Vermächtnis von Chávez an und bewerte die Ära Chávez positiv.
Dennoch sieht Schémel eine Annäherung. Die Chavistas beginnen einzusehen, dass es mit dem Staat allein nicht geht. Und die Opposition begreift, dass der Markt allein nicht genügt. An diesen Berührungspunkten bilde sich ein nationaler Konsens heraus. Nur die Anführer beider Seiten würden sich noch nicht bewegen, so Schémel.
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