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Wahl auf Landes- und BezirksebeneWahlen II: Jetzt erst recht

Landesverfassungsgericht peilt in erster Bewertung komplette Wiederholung der Wahl von 2021 an. Senat will Überprüfung am Bundesverfassungsgericht.

Es wird offenbar nochmal gewählt und gezählt: Das Verfassungsgericht peilt eine Wahlwiederholung an Foto: dpa

Berlin taz | So viel ist anders und überraschend an diesem Mittwochvormittag. Dass das Berliner Verfassungsgericht erstmals in einem Hörsaal der Freien Universität tagt. Dass gleich mehrere hundert Menschen der Verhandlung über die Pannenwahl zum Abgeordnetenhaus vom 26. September 2021 folgen. Aber vor allem das, was Gerichtspräsidentin Ludgera Selting als vorläufige Einschätzung vorträgt: „Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, dass eine komplette Neuwahl in Betracht kommt.“ Es ist noch kein Urteil, denn sonst würde es ja keinen Sinn machen, dass nun noch jene reden, die sonst noch an dem Verfahren beteiligt sind. Eine Änderung aber stellt Selting nur „an der einen oder anderen Stelle“ in Aussicht.

Applaus oder lautes Erschrecken sind nicht angesagt, aber es ist mehr als ein Raunen, das durch die Reihen in dem über zwei Etagen ansteigenden Hörsaal B.001 geht. Viele Erwartungen waren in eine andere Richtung gegangen. Am Morgen noch hatte der Tagesspiegel das Gerücht verbreitet, es habe Signale aus dem Gericht an die SPD gegeben, „ganz so schlimm werde es schon nicht kommen“.

Das sieht nach Seltings Worten ganz anders aus. Wäre die Wahlwiederholung schon Sonntag, lägen nach der jüngsten Umfrage nicht die 2021 siegreichen Sozialdemokraten vorne, sondern die Grünen – mit 5 Prozentpunkten Vorsprung vor der Partei von Regierungschefin Franziska Giffey. CDU-Generalsekretär Stefan Evers wird wenig später sagen, Giffey sei „nur noch eine Regierende auf Abruf“.

Die Wahl steht aber nicht Sonntag an. Bis zu drei Monate können zwischen diesem Termin im Hörsaal und der Urteilsverkündung liegen, 90 weitere Tage bis zur Wahl, die spätestens am 28. März wäre.

Wahl zum Abgeordnetenhaus

Am 26. September 2021 durften die Berliner*innen in 2.257 Wahllokalen ihre Stimme abgeben, zusätzlich konnte per Briefwahl abgestimmt werden, was umfassend genutzt wurde. Die Wahllokale verteilen sich auf 78 Abgeordnetenhauswahlkreise, in denen je eine Direktkandidat*in bestimmt wurde.

In zahlreichen Wahllokalen kam es zu Pannen, wie vertauschten, fehlerhaften oder fehlenden Wahlzetteln und langen Schlangen. Für etwa 10 Prozent der Wahllokale ist dies belegt; es dürfte nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs aber viele weitere betreffen. In drei Wahlkreisen fiel das Ergebnis so knapp aus, dass weniger als 100 Stimmen den Unterschied machten. Viele Expert*innen und Abgeordnete von Rot-Grün-Rot gingen daher im Vorfeld der Anhörung davon aus, dass dort – aber auch nur dort – noch einmal gewählt werden müsste, weil mögliche Fehler Auswirkungen auf die Mandatsverteilung haben könnten. Das Berliner Verfassungsgericht teilt diese Auffassung jedoch explizit nicht.

Im Falle der Bundestagswahl kann das Parlament selbst entscheiden, ob und gegebenenfalls zu welchen Teilen diese Wahl in Berlin wiederholt werden muss. Wahrscheinlich ist, dass sich der entsprechende Ausschuss am Donnerstag damit befasst. Nach den Aussagen des Berliner Verfassungsgerichts ist eine Komplettwiederholung denkbar. Nicht betroffen von der Prüfung ist der Volksentscheid; gegen dessen Ablauf wurde kein Einspruch eingelegt. (taz)

Während Präsidentin Selting die Haltung des Gerichts begründet, schießen im Hörsaal die Gedanken durcheinander. Wiederholung? In der jetzigen Situation einer Mehrfachkrise mit Energieknappheit, Inflation und Pandemie? Wie kann das ein Senat bewältigen, der dazu auf Vertrauen und enge Zusammenarbeit angewiesen ist, in dem aber nun die Nummer 2 – Vize-Regierungschefin Bettina Jarasch von den Grünen – beste Chancen hat, Giffey als Nummer 1 abzulösen?

Als die Konzentration wieder bei Seltings Ausführungen ist, erschließt sich der rote Faden. Die Verfassungsrichter argumentieren nicht wie etwa später die Landeswahlleitung allein mit konkreten Zahlen von fehlenden oder falschen Wahlzetteln, sie beziehen auch nicht genau zu fassende Dunkelziffern ein. Selting kritisiert die aus ihrer Sicht mangelhafte Wahlvorbereitung, die das Gelingen der Wahl von vornherein gefährdet haben soll. Für sie liegt nahe, dass es sich bei den dokumentierten Fehlern „nur um die Spitze des Eisbergs handelt“.

In der ersten Reihe des Hörsaals, geschätzt nur vier, fünf Meter entfernt, hört Ulrike Rockmann dem zu, am 26. September 2021 Vize-Landeswahlleiterin. Sie widerspricht Selting klar: „Wir kennen den Eisberg – es ist alles so weit aufgeklärt worden, wie es geht.“ Die Wahlleitung hatte wie die für die Wahlaufsicht zuständige Innenverwaltung des Senats selbst Einspruch gegen die Wahl eingelegt – aber nicht mit dem Ziel einer Wiederholung. Der Senatsverwaltung ging es maximal um einen erneuten Urnengang in 14 Wahllokalen in drei von 78 Wahlkreisen. Und eins will Rockmann auch noch festhalten: „Es hat eben kein flächendeckendes Versagen der Wahlorganisation gegeben.“

Für den Senat widerspricht der renommierte Rechtsanwalt Ulrich Karpenstein, zitiert aus Entscheidungen anderer Landesverfassungsgerichte – und hält das von Selting Vorgetragene für nicht vereinbar mit einer Position des Bundesverfassungsgericht vom Januar. Er drängt darauf, eine solche Entscheidung von den dortigen Richtern überprüfen zu lassen. Für ihn entwertet eine Wahlwiederholung auch die Stimmen all jener, die vor einem Jahr problemlos wählen konnten, was in 90 Prozent der Wahllokale so gewesen sein soll. Karpensteins Fazit: „Ich fürchte, dass Sie das Kind mit dem Bade ausschütten.

Offen bleibt an diesem Tag, was nach dieser Bewertung aus dem jetzigen Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) wird, der am Wahltag noch Chef des Innenressorts war. Für CDU-Mann Evers ist klar, dass er zurücktreten muss, für AfD-Landeschefin Kristin Brincker wäre das „die logische Konsequenz“. Selbst die Linkspartei als SPD-Koalitionspartner sieht „eine komplette Klatsche für den damaligen Innensenator und die zuständige Innenverwaltung“. Die habe „sehenden Auges versagt“. Und der Chef des dritten rot-grün-roten Bündnispartners, Philmon Ghirmai von den Grünen, eröffnet schon am Mittwochnachmittag kaum verhüllt den Wahlkampf: „Berlin hat eine Führung verdient, die diese Stadt fit für die Zukunft macht.“

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ein trauriger Tag für die Demokratie in Berlin und Deutschland. Dem rechten Magazin Tichys Einblick ist es gelungen die Wahl in Berlin in ein zweifelhaftes Licht zu tauchen. Egal ob diese Vorwürfe nun stimmen oder nicht, solche Kampangen rechter Medien dienen nur dazu den Staat und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu delegitimieren.

    • @Alreech:

      Es ist doch ganz gleich, wer einen Mißstand aufdeckt; ein Mißstand ist es ja unabhängig vom Aufdecker, und dieser Mißstand wurde ja nun auch von neutraleren Instanzen bestätigt.

      Der Staat hat sich hier selbst delegetimiert, weil er anscheinend unfähig war, eine der Grundlagen der Demokratie -- freie Wahlen -- ordnungsgemäß zu gewährleisten, was aber zu seinen Aufgaben gehört.

  • Dann soll doch Herr Karpenstein bitte mal erläutern, wie eine eingeschränkte Nachwahl funktionieren sollte. Wie sollte verhindert werden, dass bei zwischenzeitlichen Umzügen Mehrfachstimmenabgaben Stattfinden oder die Wahl eines zwischenzeitlich Weggezogenen ermöglicht wird.

    Nicht der Verfassungsgerichtshof entwertet mit seiner Entscheidung die Vielzahl der richtigen Stimmen sondern die schlechte Vorbereitung durch die Wahlleitung. Berliner Behördenversagen halt.

  • Frau Giffey,



    wenn sie noch einen Funken Anstand haben, dann veranlassen sie Neuwahlen, bevor das Gericht es ihnen vorschreibt.