Waffenruhe Israel und Hisbollah: Es fehlt der Glaube
Die brüchige Waffenruhe mit der Hisbollah spaltet die Menschen im Norden Israels. Die einen wollen weiterkämpfen, den anderen geht die Einigung nicht weit genug.
N ach 14 Monaten Krieg herrscht Stille in den Straßen von Schlomi an der libanesischen Grenze. Von der bewaldeten Bergkette im Norden fliegen keine Raketen mehr auf die Häuser der Stadt. Am Himmel sind zwitschernde Vögel zu hören, statt donnernder Kampfflugzeuge. Trotzdem sind bis auf einzelne Autos hier und dort auch eine Woche nach Inkrafttreten der bereits jetzt brüchigen Waffenruhe nur wenige Bewohner zurückgekehrt.
Elsi Tuamas Kiosk ist einer der wenigen Treffpunkte für jene, die noch oder wieder da sind: Landarbeiter, Reservisten und einige Hartgesottene, die trotz des Krieges geblieben sind. Zwischen einem geschlossenen Shisha-Café und einer verlassenen Ladenzeile versorgen sie sich hier mit Tabak, Alkohol und Lottoscheinen.
Die 30-jährige Elsi und ihr Mann, die neben dem Kiosk auch einen Supermarkt in der Stadt betreiben, kommen jeden Tag mit ihrem Hund zum Arbeiten aus Naharija. „Ich fühle mich noch nicht sicher genug, mit meinen drei Kindern in unser Haus an der Grenze zurückzuziehen“, sagt die in Libanon geborene Christin. Vom Balkon aus seien es ein paar Hundert Meter Luftlinie zur Grenze. „Ein Schuss, das war’s.“
Joseph Tuama, Kioskbesitzer und Christ, wurde in Libanon geboren und floh später nach Israel
Vergangenen Mittwoch hat eine von den USA vermittelte Waffenruhe die Kämpfe beendet, erst mal für 60 Tage. In dieser Zeit sollen sich die israelische Armee aus Libanon und die Hisbollah hinter den Litani-Fluss zurückziehen, rund 30 Kilometer von der Grenzlinie entfernt. Drüben, hinter der Bergkette, soll die libanesische Armee kontrollieren, dass die von Iran unterstützte Schiiten-Miliz nicht zurückkehrt.
Libanesische Christen in der Zwickmühle
Es ist derselbe Plan, der nach dem letzten Libanonkrieg 2006 als UN-Sicherheitsratsresolution 1701 auf dem Tisch lag und nie umgesetzt wurde. Diesmal aber darf die israelische Armee laut Plan bei Verstößen trotz der Waffenruhe angreifen, was sie binnen einer Woche bereits mehrfach getan hat. Am Montag wurden dabei nach libanesischen Angaben mindestens elf Menschen getötet. Elsi Tuama, die noch Familie auf der anderen Seite der Grenze hat, traut der Ruhe nicht.
Immerhin: „Es ist gut für die Kinder und weil mein Mann jetzt nicht mehr bei der Armee ist“, sagt sie. Elsis Mann füllt die Regale auf und verteilt Kaffee an die Kundschaft. „Nichts ist sicher, die Leute haben Angst, dass die Lage nach einer Pause wieder explodiert“, sagt der breitschultrige Joseph. Er heißt eigentlich anders, doch weil auch er als libanesischer Christ wie seine Frau im Jahr 2000 mit den abziehenden israelischen Besatzungstruppen nach Israel floh, will er aus Sorge um seine Angehörigen auf der anderen Seite seinen Namen nicht in der Zeitung sehen. Wie viele Libanesen waren sie damals in ihrem Heimatland wegen vermeintlicher Kooperation mit Israel bedroht worden.
Die Tuamas stecken in einer Zwickmühle. Elsi erzählt von ihrer Großmutter, die vor den israelischen Bomben nach Beirut geflohen ist und von ihrem Onkel, dem von israelischen Soldaten vor seinem Haus in die Beine geschossen worden sei. Gleichzeitig sind sie heute Israelis, ihre Kinder sprächen besser Hebräisch als Arabisch. Joseph hat als Reservist selbst Monate bei der Armee verbracht. In Gaza wurde er zweimal leicht verwundet.
In Libanon kam er während des Krieges sogar in sein altes Heimatdorf, dessen Name der Redaktion bekannt ist. Er bekommt Gänsehaut, als er erzählt, wie er vor seinem Elternhaus stand. Jetzt für die israelische Armee zu kämpfen, ist für ihn kein Widerspruch: „Libanon hat mich geboren, aber Israel hat mich aufgezogen“, sagt er.
Schwarze Flecken auf grünen Hügeln
Außerdem seien sie von der Hisbollah ebenso bedroht wie ihre jüdischen Nachbarn. Joseph greift unter die Theke und holt faustgroße Schrapnelle von Raketen hervor, die vor dem Kiosk heruntergekommen sind. Solange die Hisbollah lieber „in Waffen und Blut investiere als in die Wirtschaft und den Aufbau des Landes“, solange sehe er für die Menschen dort wenig Hoffnung.
„Keiner hier liebt uns besonders“, sagt Elsi. „Die jüdischen Israelis halten uns für Palästinenser, die Hisbollah und viele Libanesen nennen uns Verräter.“ Mit ihrer Kundschaft spricht sie ebenso fließend Hebräisch wie Arabisch. Eine jüdische Kundin mit schlohweißen Haaren widerspricht: „Für mich seid ihr die wahren Helden, weil ihr trotz der Kämpfe hier weitergemacht habt.“
Rund 8.000 Raketen hat die Hisbollah seit dem 8. Oktober 2023 abgefeuert, dazu Hunderte Drohnen und Panzerabwehrraketen. Die israelische Luftwaffe antwortete mit einem Vielfachen an Luftschlägen im gesamten Libanon. Auf israelischer Seite starben rund 50 Zivilisten und mehr als 75 Soldaten.
In Libanon wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden rund 4.000 Menschen getötet, wobei deren Zählung nicht zwischen Militanten und Zivilisten unterscheidet. Rund eine Million Libanesen und etwa 60.000 Israelis wurden zwischenzeitlich vertrieben. Eintausend Gebäude in der 10.000-Einwohnerstadt Schlomi sollen laut der Gemeinde beschädigt worden sein. Die Hügel sind mit schwarzen Flecken überzogen, wo nach Treffern Waldbrände ausgebrochen sind.
Ein hoher Preis für die nächste Generation
Israel hat die Hisbollah massiv geschwächt: Sie soll zwischen 3.000 und 4.000 Kämpfer verloren haben, wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf drei „mit deren Operation vertraute“ Quellen berichtet. Wie viele es vor dem Krieg waren, weiß niemand genau. Der Ende September getötete langjährige Anführer, Hassan Nasrallah, hatte 2021 geprahlt, er verfüge über 100.000 Kämpfer. Die Londoner Denkfabrik Institute for Strategic Studies ging 2022 von bis zu 20.000 aus.
Laut israelischen Angaben seien 80 Prozent des Raketenarsenals zerstört. Die gesamte Führungsebene bis weit unter Nasrallah ist in gezielten Angriffen getötet worden. Vielen in Schlomi aber reicht das nicht.
„Wenn wir die Mission gegen die Hisbollah nicht zu Ende bringen, wird die nächste Generation den Preis bezahlen“, sagt Joseph. Ähnlich sehen es viele in Israels Norden: Mehrere Gemeinden haben die von den USA vermittelte Einigung kritisiert. Der Bürgermeister von Kirijat Schmona östlich von Schlomi, Avichai Stern, sprach gar von einem „Kapitulationsvertrag“, weil die Hisbollah nicht besiegt worden sei. 54 Prozent der jüdischen Israelis landesweit unterstützen laut einer Umfrage des Israeli Democracy Institute von Mitte November eine Fortsetzung des Krieges.
Verstehen lässt sich das kaum ohne das Trauma des 7. Oktobers. Der Hamas-Überfall mit 1.200 Toten und 251 Entführten hat sich auch bei vielen im Norden Israels tief eingebrannt. „Wenn die Hisbollah vor einem Jahr wie die Hamas angegriffen hätte, wären sie bis Haifa gekommen und ich stünde heute nicht hier“, mischt sich der Landwirt Ascher Yakuti ins Gespräch.
Eine Rückkehr ist zu riskant
Der 56-jährige Avocadobauer ist aus dem Nachbardorf Avdon gekommen, wo der Dorfladen noch nicht wieder geöffnet hat. An seinen Stiefeln und Jackenärmeln klebt Erde. „Ich war gegen die Waffenruhe“, sagt er. „Jetzt haben sie sich auf fünf oder zehn Jahre Ruhe geeinigt. Dabei hätten sie es zu Ende bringen müssen.“ Die Hisbollah nennt er „diese Hunde“.
An rauen Fingern zählt er die vergangenen Jahrzehnte auf: Den Libanonkrieg von 1982, der zum Abzug der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO aber auch zum Aufstieg der Hisbollah geführt hat. Mehrere Kampfrunden zwischen der israelischen Armee und der Schiiten-Miliz in den 90er-Jahren. Den Abzug der israelischen Truppen aus Libanon im Jahr 2000 und den Libanonkrieg 2006, nachdem Hisbollah-Kommandos mehrfach nach Israel eingedrungen waren und schließlich zwei Soldaten entführt hatten.
„Aber so schlimm wie diesmal war es noch nie“, schließt Yakuti, der sein ganzes Leben in Avdon verbracht hat und auch während des Krieges geblieben ist. „Ich bin Bauer, ich kann nicht einfach gehen“, sagt er, auch wenn er vor Artilleriefeuer und den Explosionen der Raketenabwehr in vielen Nächten kaum geschlafen habe.
Razan Awad-Kout, 26, trauert um ihre Mutter
Vom Kiosk der Tuamas führt die Straße den Berg hinunter Richtung Libanon. Linker Hand klafft ein großes Loch im dritten Stock eines Wohnhauses. Die Fenster im Umkreis sind zersplittert, die Wände mit kleinen Kratern übersät. 20 Meter weiter inspiziert Yossi Amrusi mit seiner sechsjährigen Tochter Avischai das Haus seiner Familie. „Meine Frau und ich wohnen mit den Kindern noch bei Haifa“, sagt der 35-Jährige mit dem graumelierten Vollbart. Sie würden beide nicht an die Waffenruhe glauben.
Eine Rakete kam durchs Dach
Vor den staubigen Küchenregalen liegt Mäusekot. Amrusi fährt mit dem Finger über einen Sprung in einem Fenster. „Die Hisbollah wird nicht jenseits des Litani bleiben“, sagt er. Seine Frau wolle erst zurückkommen, wenn Israel einen Grenzstreifen einige Kilometer innerhalb Libanons besetzt habe.
Tatsächlich gerät die Waffenruhe bereits eine Woche nach ihrem Beginn gefährlich ins Wanken. Die israelische Armee hatte in den vergangenen Tagen mehrfach Luftangriffe in Libanon geflogen und diese mit Verstößen der Hisbollah gegen die Bedingungen der Waffenruhe gerechtfertigt. Am Montagabend feuerte die Hisbollah erstmals seit einer Woche zwei Mörsergranaten über die Grenze nach Israel. Die Armee antwortete in der Nacht mit einer weiteren Serie von Luftangriffen.
Für die palästinensisch-israelische Grundschullehrerin Safaa Awad-Kout aus Schfaram kam die Waffenruhe zu spät. Acht Tage vor dem Ende der Kämpfe durchschlug eine Rakete aus Libanon das Dach ihres Hauses in der 30 Kilometer südlich von Schlomi gelegenen arabischen Stadt. „Sie war sofort tot“, sagt ihre Tochter Razan. Vom Dach des Nachbarhauses blickt die 26-Jährige auf den zerstörten Schutzraum im vierten Stock, der ihre 54-jährige Mutter nicht hat schützen können.
„Es muss eine größere Rakete als die normalen Hisbollah-Geschosse gewesen sein“, sagt Razan. Ausgerechnet ihre Mutter habe die Gefahr immer ernst genommen, sagt Razan. Die Familie baute einen Schutzraum ein, noch bevor es gesetzlich vorgeschrieben war. Bis heute hat keines der Nachbarhäuser Schutzräume. „Sie hat mich jedes Mal angerufen, wenn es in Haifa Alarm gab und mir gesagt, dass ich die Sirenen ernst nehmen soll.“ An ihrer Grundschule sei sie für Sicherheit zuständig gewesen.
Der Geruch von kalter Asche
Am 18. November klingelte während eines Seminars Razans Raketenwarnapp: Alarm in Schfar Am, wieder einmal. „Schaue ich mir nach dem Kurs an“, habe sie gedacht. Als ihr eine Freundin kurz darauf ein Bild ihres zerstörten Elternhauses schickt, geht ihre Mutter schon nicht mehr ans Telefon.
Die junge Frau mit den rötlichen Locken und den silbernen Creolen spricht klar und sortiert. Sie sagt selbst, sie habe noch nicht akzeptiert, dass Safaa nicht mehr da sein soll – obwohl sie seit zwei Wochen jeden Tag ihr Grab besucht. „Selbst wenn es in Haifa fast täglich Luftalarm gab: Der Krieg war gefühlt immer weit weg“, sagt Razan, die dort Medizintechnik studiert. „Du kannst dir nicht vorstellen, dass es dich trifft.“
Über der Ruine des Gebäudes hängt auch zwei Wochen später noch der Geruch von kalter Asche. Die Wucht der Explosion hat meterlange Risse in die Außenwände geschlagen. 25 Jahre lang wuchs Razan hier auf, geblieben sind verbrannte Erinnerungen. Unter ihren Converse-Schuhen knirschen Glasscherben, als sie in den Hof geht. Dort parkt der beschädigte Lieferwagen ihres Onkels: „Klimaanlagenbau“ steht auf der Seite. „Wieso konnten sie nicht acht Tage früher aufhören?“, fragt Razan laut. „Das macht es noch härter.“ Sie wolle die Geschichte ihrer Mutter erzählen, um zu sagen: „Bitte beendet diesen Krieg, es sind genug Menschen gestorben.“
Wie sie sprechen sich rund 88 Prozent der arabischen und palästinensischen Israelis für eine diplomatische Lösung mit der Hisbollah aus. „Ich will nicht lügen, dieser Krieg stellt mich vor ein Identitätsproblem“, sagt Razan. Eine Rakete einer arabischen Miliz hat das Haus ihrer palästinensisch-israelischen Familie getroffen und ihre Mutter getötet. „Ich will niemandem und allen die Schuld geben.“
Hass und Häme gegen die tote Lehrerin
Kurz nach dem Angriff tauchte online eine Flut von Hasskommentaren rechter jüdischer Israelis auf, die den Tod ihrer Mutter feierten. „Geschieht ihr recht“, schrieb ein Nutzer unter das Foto von Safaa. „Sie hat solche Worte nicht verdient“, sagt Razan. Ihre Mutter habe als Lehrerin dem Land gedient, sei selbst kein politischer Mensch gewesen.
Doch es habe auch Unterstützung gegeben. Bei der Beerdigung seien viele Menschen gekommen, die sie noch nie gesehen habe. Muslime, Christen, Drusen aber auch Juden aus den Gemeinden um Schfaram. Sie hätten ihr Beileid ausgesprochen und Unterstützung angeboten. „Das hat mir viel bedeutet“, sagt Razan. „Den Hass habe ich vor allem online mitbekommen.“
Israelische Palästinenser und Araber sehen sich seit Kriegsbeginn zunehmend Misstrauen und Anfeindungen bis hin zu Kündigungen und Verhaftungen ausgesetzt. Auffallend ist, dass laut der NGO Sikkuy-Aufoq von den 48 seit Kriegsbeginn durch Geschosse oder herabfallenden Trümmer in Nordisrael getöteten Zivilisten mehr als die Hälfte arabische Israelis waren. Dabei machen diese nur ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Viele arabische und palästinensische Ortschaften verfügen der Organisation zufolge über weniger Schutzeinrichtungen als jüdische Orte.
In Schfaram kommen laut dem Sicherheitsbeauftragten der Stadtverwaltung acht öffentliche Schutzräume auf mehr als 40.000 Einwohner. Im ähnlich großen jüdischen Safed gibt es laut der NGO 138 öffentliche Bunker. Zahlreiche arabische Gemeinden werfen dem Staat mangelnde Unterstützung vor. Andere sehen die Verantwortung auch bei den Gemeindeverwaltungen selbst. Es bleibt, dass der Mangel an Schutzräumen tödliche Folgen hat.
Schaut nach Gaza!
Zurück im Haus ihres Onkels, wo Razan mit ihrem Vater und den vier Geschwistern wohnt, herrscht Trubel. Die Familie hat eine Wohnung gefunden, der Umzug ist schon am Sonntag. Auch deswegen lässt Razan ein Gedanke nicht los, erzählt sie: „Der Schmerz, meine Mutter zu verlieren, macht mir noch klarer als vorher: Es reicht nicht, dass es einen Waffenstillstand mit der Hisbollah gibt, solange in Gaza weitergekämpft wird. Wir fühlen das Gleiche, was sie dort fühlen.“
Rund zwei Autostunden südlich im Gazastreifen ist von Waffenruhe keine Rede. Israel lässt weiterhin kaum humanitäre Hilfe in den Küstenstreifen und bombardiert das Gebiet pausenlos. In der Nacht auf Montag wurden laut palästinensischen Rettungskräften 15 Menschen in Beit Lahia getötet.
Im November gelangten laut israelischen Angaben mit 30.715 Tonnen bereits den zweiten Monat in Folge so wenig Nahrungsmittelhilfen wie seit einem Jahr nicht mehr in den Küstenstreifen. Alle Warnungen von Hilfsorganisationen, dass Hunger, Krankheiten und die einsetzenden Winterregen das Überleben der rund zwei Millionen fast vollständig vertriebenen Bewohner bedrohen, ignoriert die israelische Führung weitgehend.
„Dort haben sie noch viel mehr verloren als wir“, sagt Razan. Zumindest habe ihre Familie ein Dach über dem Kopf, Unterstützung und müsse nicht im Winterregen in Zelten ausharren. „Ich will, dass die Geschichten aller Opfer gehört werden und dieser Krieg endlich endet“, sagt Razan.
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