: Vor dem Offenbarungseid
In der Türkei tobt weit mehr als eine Wirtschaftskrise. Die Führung des Landes muss eingestehen, dass sie ihr System nicht mehr finanzieren kann. Der Westen tut nichts
Sechs Wochen nach dem Absturz der Landeswährung Lira melden sich in der Türkei die Massen zu Wort. Am vergangenen Mittwoch waren rund 200.000 Leute in 15 Städten des Landes auf der Straße; nach schweren Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Ankara hat der dortige Gouverneur ein vierwöchiges Demonstrationsverbot verhängt. Doch die Menschen werden sich dadurch nicht mehr aufhalten lassen.
Für den heutigen Samstag rufen die Gewerkschaften zur Kundgebung in Istanbul. Morgen sind es vielleicht die Islamisten. Seit die letzten Hoffnungen auf eine schnelle Überwindung der Wirtschaftskrise aufgebraucht sind, bricht sich eine über Wochen hinweg aufgestaute Wut Bahn. „Haut endlich ab“, ist die Hauptforderung an die Adresse der Regierung; aber die Demonstranten haben auch eine Botschaft für die internationale Gemeinschaft: „IWF raus!“.
Getragen wird der Protest nicht etwa von der parlamentarischen Opposition oder anderen Parteien. Hinter den Demos stehen vielmehr die Zusammenschlüsse der kleinen Händler, der Basaris und Handwerker, also derjenigen, die mit den Auswirkungen der Krise am unmittelbarsten konfrontiert sind. Doch so eindrucksvoll die Bilder der aufbegehrenden Massen zunächst sind: Die Proteste laufen ins Leere, weil sie eher Ausdruck der allgemeinen Hoffnungslosigkeit sind, als dass sie ein konkretes Ziel verfolgen.
Die Regierung unter Bülent Ecevit wäre längst in der Versenkung verschwunden, wenn sich eine Alternative anbieten würde. Doch die Opposition besteht nur aus einer bereits einmal gescheiterten islamistischen Partei und der abgehalfterten „Partei des Rechten Weges“. Deren Chefin Tansu Çiller ist den meisten Türken noch aus den 90er-Jahren in schlechter Erinnerung: als personifizierte Katastrophe. Alle Meinungsumfragen zeigen, dass in dieser Opposition niemand eine Alternative sieht. Vereinzelt wurde zwar bei Demonstrationen gefordert „Lasst das Militär ran“; doch im Gegensatz zu früheren Situationen zeigt die Armee keinerlei Neigung, zu intervenieren. Und das mit gutem Grund: Die amtierende Regierung ist bereits ihr Dream-Team; abseits dessen sind die Militärs genauso ratlos wie Ecevit und Co.
Die Wahrheit ist, dass die amtierende Staatsführung bereits das letzte Aufgebot darstellt: eine Regierung der nationalen Einheit – lediglich unter Ausschluss der Islamisten – mit breiter Mehrheit im Parlament. Mit Ecevit und seiner Koalition aus ultrarechten Nationalisten und Wirtschaftsliberalen ist deshalb mehr als nur eine weitere Regierung gescheitert. Die derzeitige Krise ist ein Offenbarungseid des gesamten politischen Systems der Türkei.
Bisher schien es immer so, als würde die Türkei auf dem Weg nach Europa vor allem an politischen Fragen scheitern: die Rechte der Kurden, die Todesstrafe, die Missachtung der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte ganz allgemein. Hinter all dem wurde immer die Macht der Militärs vermutet. Jetzt aber zeigt sich, dass sich unter dieser unschönen Oberfläche ein Abgrund auftut, der von der herrschenden Bürokratie bisher sorgsam vertuscht worden war: Die Türkei ist bankrott.
Der türkischen Führung steht nun bevor, was Tito nur durch rechtzeitiges Ableben erspart blieb: das Eingeständnis, dass sie ihr System nicht mehr finanzieren kann. Die türkische Industrie ist in den 30er-Jahren auf staatlicher Basis aufgebaut worden. Bis heute kontrolliert der Staat über die Hälfte der Fabriken und 70 Prozent der Banken. Diese Verflechtung ist der Hintergrund für die endemische Korruption der politischen Klasse – aber auch die Lebensgrundlage für Millionen Menschen, die in unrentablen Staatsbetrieben einen Job bekamen oder als Bauern davon leben, dass der Staat ihre Ernte zu einem vorher bestimmten Preis aufkauft.
Die Türkei hat in den letzten 50 Jahren unzählige Krisen, drei Militärputsche und eine andauernde hohe Inflation erlebt – und ist doch immer wieder irgendwie auf die Füße gekommen. Die Bevölkerung ist also krisenerprobt und nicht allzu leicht aus der Ruhe zu bringen. Doch dieses Mal ist die Ratlosigkeit allgemein, und die Massenproteste sind Ausdruck einer sich breit machenden Panik: Während die türkische Lira immer mehr an Wert verliert und die Inflation völlig außer Kontrolle zu geraten droht, sind weder Personen noch Konzepte in Sicht, die das Land aus der Krise führen könnten.
In dieser Situation wiegt es schwer, dass die Türkei von ihren angeblichen Freunden allein gelassen wird. Deutschland, der wichtigste ökonomische Partner, ließ durch Finanzminister Eichel mitteilen, man werde sich dafür einsetzen, dass der Internationale Währungsfonds etwas tut. An bilaterale Unterstützung jedoch sei derzeit nicht zu denken.
In den USA ist mit Bush gerade eine Administration an die Macht gekommen, deren Credo „America first“ sie für die Folgen unterlassener Hilfeleistungen blind macht und die darüber hinaus auch den amerikanisch dominierten IWF zu äußerster Zurückhaltung zwingt. Die Folge davon ist, dass die Türkei in den letzten Wochen nicht einmal kurzfristige Kredite bekommen hat, um die schlimmsten Auswirkungen der Krise abzumildern. Auch das Programm, das mit dem IWF als Voraussetzung für zukünftige finanzielle Unterstützung vereinbart werden soll, sieht nicht so aus, als wäre es auf die spezifische Situation in der Türkei zugeschnitten: Privatisierung, Streichung von Subventionen und Haushaltstransparenz gehören zu genau dem Standardprogramm, mit dem der IWF bereits in etlichen anderen Ländern gescheitert ist.
Das Desinteresse in Washington ist zwar töricht – aber anders als in Mexiko oder Südostasien sind US-Banken in der Türkei nicht so stark engagiert, dass sie durch ein türkisches Schuldenmoratorium ernsthaft in Schwierigkeiten geraten könnten. Für die EU hätte ein völliger Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft dagegen schwerwiegendere Konsequenzen. Davon abgesehen, dass viele Menschen versuchen würden, per Auswanderung quasi individuell EU-Mitglied zu werden, wäre die weitere Entwicklung unberechenbar. Überbordender Nationalismus, härteste Verteilungskämpfe, Formierung ethnischer oder religiöser Subverbände – die Entwicklung auf dem Balkan sollte abschreckendes Beispiel genug sein.
Die EU hat vor gut einem Jahr nach jahrzehntelangem Zögern die Türkei als Beitrittskandidat akzeptiert. Das war damals aufgrund der jugoslawischen Erfahrungen ein richtiger Schritt. Auch wenn es jetzt ökonomisch und innenpolitisch scheinbar teuer sein mag, der Türkei bei dem bevorstehenden Transformationsprozess unter die Arme zu greifen: Es nicht zu tun wird perspektivisch allemal teurer. Die EU sollte sich möglichst schnell des Problems an ihrer südöstlichen Grenze bewusst werden und die Mittel bereitstellen, um einer zukünftigen türkischen Regierung zu helfen, die bevorstehenden gesellschaftlichen Umwälzungen sozial abzufedern. Das wäre eine Investition in die Zukunft – nicht nur für die der Türkei. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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