Vor 15 Jahren starb Oury Jalloh: Rassistisch korrupt
Heute vor 15 Jahren verbrannte Jalloh in einer Zelle der Polizei in Dessau. Erschüttert uns der Aufwand, mit dem eine Aufklärung verhindert wird?
Ein Mann verbrennt in einer Gewahrsamszelle der Polizei. Die Beamten in der Polizeidienststelle behaupten, er habe seine Matratze angezündet und sei dann im Feuer umgekommen. Die Ermittler, die den Ort des Todes untersuchen, finden kein Feuerzeug. Zwei Tage später taucht plötzlich eins auf. Die Faserspuren am Feuerzeug sind allerdings andere als die der Matratze und der Kleidung des Mannes. Ach ja, der Mann, der sich selbst angezündet haben soll, war mit Handschellen gefesselt.
Würde Sie das beunruhigen? Würden Sie nicht unbedingt wissen wollen, wie so etwas passieren kann? Aus Mitgefühl? Aus der diffusen Angst, dass solche Polizisten ja auch Sie beschützen, in Gewahrsam nehmen, in irgendeiner Weise für Ihre Gesundheit und Ihr Leben verantwortlich sein könnten?
Würde es Sie unruhig machen, wenn Sie wüssten, dass die Videoaufnahme von der Begehung des Tatortes genau an der Stelle abbricht, als die Ermittler die Zelle betreten, es also kein Filmmaterial vom Ort nach dem Brand gibt? Wenn Sie wüssten, dass die Ermittler fast neun Jahre lang nie eine andere These verfolgen, als dass der Mann in der Zelle sich selbst angezündet hat? Dass zentrale Erkenntnisse, die andere Schlüsse zulassen, durch die Initiative und mit dem Geld von Privatleuten gesammelt worden sind. Wie zum Beispiel das Gutachten eines Brandexperten, der zu dem Schluss kommt, der Mann in der Zelle könne sich unmöglich selbst angezündet haben.
Würde es Sie vielleicht einen kurzen Moment hoffen lassen, dass fast neun Jahre nachdem der Mann verbrannt ist, der ermittelnde Oberstaatsanwalt sagt, man müsse vielleicht doch in Betracht ziehen, dass der Mann in der Zelle ermordet worden sei. Würde es Ihnen dennoch den Magen umdrehen, dass diese Erkenntnis so lange gebraucht hat und dass der Oberstaatsanwalt dafür erst ein Video mit einer Nachstellung des Brandes sehen musste, das ebenfalls Privatleute bezahlt haben?
Was würden Sie denken, wenn der ermittelnde Staatsanwalt zwölf Jahre nach dem Tod des Mannes einen Aktenvermerk schreibt, der Mann sei schon vor Ausbruch des Feuers in seiner Zelle „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“ gewesen? Dass er vermutlich mit Brandbeschleuniger angezündet wurde.
Würden Sie am Rechtsstaat zweifeln, wenn der Staatsanwalt kurz danach für den Fall des verbrannten Mannes nicht mehr verantwortlich ist und das Verfahren eingestellt wird?
Würden Sie weinen, wenn fast 15 Jahre nach dem Tod des Mannes in der Zelle sich ein Radiologe aus Frankfurt am Main noch einmal die Röntgenaufnahmen und Fotografien des verbrannten Mannes ansieht und feststellt, dass er vor seinem Tod schwer misshandelt wurde. Jemand hatte ihm damals Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen.
Würde es Sie noch berühren, dass das zuständige Oberlandesgericht einen neuen Prozess ablehnt? Würden Sie nur noch zynisch lachen, weil das Parlament des Bundeslandes, in dem das alles passiert ist, sich nicht zu einem Untersuchungsausschuss durchringen kann, sondern zwei Männer beauftragt, sich die bekannten Akten noch einmal anzusehen? Würde es für Sie noch eine Rolle spielen, dass Sozialdemokraten und Grüne in der Regierung sitzen und das mittragen?
Hassen Sie Fragen nach Ihren Gefühlen, nach Empathie, möchten Sie damit lieber nicht behelligt werden?
Heute auf den Tag genau vor 15 Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Zelle der Polizei in Dessau. Sein Tod und die als Aufklärung getarnte Vertuschung eines wahrscheinlichen Mordes an einem Schwarzen Mann durch Polizisten sollte uns erschüttern. Aus Mitgefühl. Und weil sein Fall wie der Fall NSU für die rassistische Korruption in diesem Land steht. Für das bis ins Tödliche reichende Nichtfunktionieren staatlicher Institutionen für Schwarze Menschen, Geflüchtete, Menschen, deren Eltern und Großeltern nicht in Deutschland geboren wurden. Für eine zivilisatorische Lücke, für die weiße Deutsche verantwortlich sind und die wir schließen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!