Von einem, der überfordert ist: Ich bin schuld!
Ob Dioxinskandal, Bankenkrise, die Diktatur in Tunesien oder Klimawandel - an allem bin ich selber schuld. Ich habe die Schnauze gestrichen voll! Ein Eingeständnis.
In diversen Talkshows und unserer kleinen Zeitung höre und lese ich immer wieder, dass der Verbraucher schuld am Dioxinskandal ist. Denn ich, der Verbraucher, will billige Eier und billiges Fleisch essen. Demzufolge setze ich den Produzenten unter Druck - denn er, der Produzent, muss jetzt meinetwegen bei der Produktion seiner Lebensmittel Geld einsparen.
Mit meinem Verhalten verführe ich den Hersteller also dazu, billiges, mit Dioxin gepanschtes Futtermittel zu produzieren. Zwinge ihn praktisch dazu. Ist ja klar: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Meine Billignachfrage führt zu einem Billigangebot - und dieses Billigangebot führt eben zu verseuchten Eiern, Rindern und Schweinen.
Aber damit noch nicht genug. Am Bankenskandal bin ich natürlich auch schuld. Denn ich, der Bankkunde, möchte für mein Geld die höchste Rendite erzielen. Also verführe ich die Banker dieser Welt dazu, mir lukrative Wertpapiere zu verkaufen. Weshalb bin ich auch so gierig und habe mich vorher nicht genau erkundigt? Selbst schuld! Ich war die Immobilienblase, ich bin die Irland- und Griechenlandkrise, ich bin der Bankenskandal!
Ich kaufe auch die falschen Klamotten. Meine Schuhe sind "Made in China" und meine T-Shirts "Made in Bangladesch". Ich will billige Klamotten. Und deswegen gibt es Kinderarbeit in der Dritten Welt. Klar, ich ernähre mich falsch. Ich kaufe die falsche Schokolade und den falschen Kaffee, und deswegen gibt es den unfairen Handel zwischen Nord und Süd.
Vor ein paar Wochen bin ich für einen Schnäppchenpreis all-inclusive für eine Woche in den Urlaub nach Tunesien geflogen. Habe einfach mal ein bisschen Sonne gebraucht. Jetzt erfahre ich, dass ich mit meinem Flug nicht nur das Weltklima ruiniert, sondern mit meinen Devisen auch noch einen Diktator namens Ben Ali unterstützt habe, der sein Volk 23 Jahre lang unterdrückt hat. Ohne meine Devisen wäre dieser Ben Ali schon längst pleite gewesen und hätte sich nicht an der Macht halten können.
Ich arbeite ziemlich viel, um meine Familie zu ernähren, und weil ich so viel arbeite, fühlt sich meine Frau gleich in mehrfacher Hinsicht von mir vernachlässigt. Ich weiß, dass mir meine Kinder irgendwann vorwerfen werden, dass ich mich nicht genug um sie gekümmert habe. Und meine vielen Überstunden sind außerdem schuld daran, dass ein Arbeitsloser keinen Job bekommt. Denn würde ich weniger arbeiten, müsste mein Chef noch jemand anderen einstellen. Und dieser andere, der den Job nicht bekommt, ist auch schuld. Denn jeder, der wirklich arbeiten will, bekommt in diesem Land einen Job. Er ist entweder zu anspruchsvoll oder ganz einfach zu faul. Auf jeden Fall ist er an seiner Misere selber schuld.
Um das tägliche Pensum an Leistung, Vergnügen und Kreativität zu bewältigen, nehme ich Aufputschmittel und konsumiere Drogen. Liebe, Sex, Kinder, Freunde, Freizeit, Saufen, Quatschen und Tanzen - alles ist inzwischen Arbeit. Ich muss gut drauf sein, Spaß haben und meine Beziehungen pflegen. Dabei betreibe ich Raubbau an meinem Körper. In ein paar Jahren brauche ich einen Herzschrittmacher und allen anderen möglichen Schnickschnack und schade so dem Gesundheitswesen. Und an den Drogenkriegen in Kolumbien und Afghanistan bin ich ergo natürlich auch schuld.
Ich verbrauche auch zu viel Wasser und Strom und … Ach, wisst ihr was, das wird mir jetzt alles zu dumm. Ich bin nicht schuld. Fickt euch alle!!! Ich habe die Schnauze gestrichen voll! Ich bin ein ganz normaler und anständiger Kerl, der einfach überfordert ist.
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