Von der Touristin zur Aktivistin: In der ersten Reihe
Rebecca Sprößer reist zum Salsatanzen nach Kolumbien. Wenige Wochen später steht sie an vorderster Front der Protestbewegung. Wie kam es dazu?
D ie Stimme des Priesters hallt durch die Kirche, die bis zum letzten Platz gefüllt ist. „Wir denken an unsere Familien, die – gerade in Pandemiezeiten – so weit weg sind“, predigt er auf Spanisch. Die Sonntagsmesse der spanischsprachigen katholischen Gemeinde in Frankfurt ist vor allem von Exil-Lateinamerikaner*innen besucht. In der ersten Reihe sitzt eine Frau mit hellen blonden Locken und hellblauen Augen. Der Priester verliest die Namen von Angehörigen, die in letzter Zeit gestorben sind. Beim Namen Jhoan Sebastián Bonilla Bermúdez kommen der Frau die Tränen.
Knapp zwei Monate vorher geht eine Nachricht durch die kolumbianischen Medien: „Kolumbien weist Deutsche aus, die die ‚Primera Linea‘ in Cali unterstützte“, schreibt die Zeitung El Colombiano. Die Deutsche sei als Touristin nach Kolumbien gekommen, habe sich dann aber einer militanten Gruppe von Protestierenden, der „Primera Linea“ – der „Ersten Reihe“ – angeschlossen. Es wurde auf sie und ihren Freund geschossen. Er starb; sie wurde abgeschoben. Ihr Name: Rebecca Sprößer.
In ihren Posts auf Facebook und Instagram wirkt Sprößer nicht wie eine überzeugte Radikale, eher ein bisschen naiv. „Ich bin ein friedlicher Mensch, Hass ist etwas für schwache Menschen und schadet am Ende nur dir selbst – ich hab es immer bevorzugt, zu lieben und Freude zu versprühen“, schreibt sie auf Spanisch. Auf den Fotos in ihrer Timeline malt sie Herzchen in die Selfies mit Vermummten. In ihren Videos hastet sie durch Menschenmassen auf Demos und kommentiert mit hoher Stimme das Geschehen.
Wer ist die Frau, die sich in Kolumbien radikalen Gruppen anschloss und innerhalb von wenigen Wochen zur Aktivistin wurde? Wie kam es dazu?
Der Versuch einer Rekonstruktion führt nach Frankfurt in die Kirche der spanischsprachigen Gemeinde. Nach der Messe ist das Make-up auf Sprößers Gesicht von den Tränen verwischt. „Ich muss jetzt erst mal durchatmen“, sagt sie. Sie trägt ein Lederjäckchen über einem T-Shirt, auf dem „Gott und Primera Linea“ steht. Sprößer ist 34, in echt wirkt sie älter als auf ihren Videos. Sie sieht etwas müde aus, trotz ihrer sorgsam geschminkten Augen.
Auf dem Weg zu ihrem geparkten Auto spricht sie fast ununterbrochen, die Geschichten aus Kolumbien sprudeln aus ihr heraus. Obwohl es um Gewalt, Liebe und den Tod des Freundes geht, wirkt sie manchmal fast kühl, kontrolliert. „Meine Psychologin sagt, dass ich noch gar nicht in der Phase bin, wo man verarbeitet. Ich bin noch in der Schockphase“, sagt sie.
Bis zum April 2021 ist Rebecca Sprößers Leben ziemlich normal. Sie wächst in einer eher konservativen Familie in Hanau auf. Ihre Eltern betreiben einen Fleischerladen in Frankfurt. Schon mit 16 Jahren zieht sie von zu Hause aus, das Verhältnis zu ihrer Familie ist kühl. Nach dem Abitur macht Sprößer eine Ausbildung und fängt ihren heutigen Job an. Was sie arbeitet, möchte sie nicht öffentlich machen. Außerdem reist sie viel und zunehmend zieht es sie weg aus Deutschland, nach Lateinamerika.
Ein Jahr lebt sie in Mexiko und arbeitet von dort aus. Parallel macht sie ein Praktikum in einer Videoproduktionsfirma, die für den deutschen Medienmarkt produziert. „Immer wenn ich nach Frankfurt zurück musste, habe ich Lateinamerika so vermisst“, erzählt Sprößer im Auto, während draußen die Skyline vorbeizieht.
Sie sucht Anschluss an die lateinamerikanische Community und findet ihn beim Salsatanzen. Hier erzählen ihr Tanzpartner von einer renommierten Salsaschule in Kolumbien. Also schmiedet sie einen Plan: Ihren normalen Job kann sie wegen Corona eh nicht machen, sie bezieht Kurzarbeitergeld. Für zwei Wochen will sie an die Tanzschule in Kolumbien und dann weiter nach Mexiko.
Im März 2021 fliegt Sprößer nach Cali, eine Millionenstadt, in der es immer heiß und laut ist. Ständig dröhnt Musik aus den Lautsprechern der Nachbarn, Straßenverkäufer preisen Früchte an, der Verkehr ist chaotisch. Für die Tanzschule macht Sprößer Öffentlichkeitsarbeit und erhält im Tausch Gratistanzstunden. Es gefällt ihr so gut, dass sie noch länger bleiben will.
Doch dann ändert sich die Pandemielage, und Cali geht in den Lockdown. Die Tanzschule muss schließen. Die Besitzerin hat Schulden und fliegt aus der Wohnung, erzählt Sprößer. „Die war mittlerweile eine gute Freundin von mir, ich habe da so mitgelitten.“ Noch heute klingt Sprößer empört, wenn sie davon erzählt. „Ich dachte, das geht gar nicht. Natürlich verstehe ich Corona. Aber die Regierung muss helfen. Sie kann nicht einfach alles zumachen und sagen, ihr müsst gucken, wie ihr klar kommt.“ Die Coronamaßnahmen bringen viele Menschen in Cali in Existenznot. Kaum jemand kann seiner Arbeit nachgehen, fast niemand hat Rücklagen. Unterstützung vom Staat gibt es so gut wie keine. Eltern, die ihre Kinder nicht mehr versorgen können, laufen durch die Straßen und bitten an den Türen um etwas Reis oder ein paar Bohnen.
Mitte April 2021 finden in Cali die ersten Demonstrationen gegen die Regierung statt. Freunde aus der Tanzschule fragen Sprößer, ob sie mitkommt. Es ist die erste Demo in ihrem Leben. Vorher habe sie sich eher nicht für Politik interessiert, sagt sie. Doch als ihre Bekannten aus der Tanzschule in Not gerieten, habe sie sie unterstützen wollen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Als Präsident Iván Duque mitten in der Coronakrise mit einer Steuerreform vor allem die untere Mittelschicht stärker belasten will, um die leere Staatskasse zu füllen, mobilisieren Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einem Generalstreik. Am 28. April beginnen die größten Proteste in Kolumbien seit mehr als 50 Jahren. Rebecca Sprößer ist mittendrin.
Auch dann, als die Polizei die Demos mit Tränengas und Gummigeschossen angreift. Für Sprößer ist das so neu wie schockierend. Die Polizeigewalt spielt eine wichtige Rolle bei der Politisierung der Frankfurterin. „Ich hatte vorher noch nie Polizeigewalt in meinem Leben gesehen. Ich dachte immer, wir sind friedlich, uns wird ja nichts passieren.“ Der Tränengasangriff im überfüllten Zentrum sorgt für Panik unter den Demonstrierenden. „Da habe ich das erste Mal gemerkt: Oh Mann, das ist echt ernst hier.“
Sie geht trotzdem – oder gerade deswegen – weiter zu den Demos. Jemand von einer Hilfsorganisation habe sie gefragt, ob sie nicht helfen wolle, medizinische Versorgungspakete an den Streikpunkten zu verteilen, erzählt sie. So lernt sie mehr Menschen auf den Demos kennen, aber noch sind es flüchtige Kontakte. Sprößer beginnt auch zu filmen. Früher hat sie auf ihrem Instagram-Account von ihren Reisen berichtet, nun sind die Proteste ihr Erlebnis. Doch außerhalb ihres Freundeskreises schaut kaum jemand ihre Videos.
Cali ist das Zentrum des sozialen Aufstands. Streikende errichten Barrikaden, die sie gegen die Polizei verteidigen. Dabei nehmen die Leute der Primera Linea, der „ersten Reihe“, eine wichtige Rolle ein. Sie versuchen, die Demonstrationen gegen die Polizei zu schützen. Mit selbstgebauten Blechschildern gegen Gummigeschosse, Gasmasken oder Schwimmbrillen gegen Tränengas. Für die Regierung sind die Vermummten Kriminelle. Im Laufe der Proteste werden alle Gruppen, die sich als Teil der Primera Linea ausgeben, als terroristische Vereinigungen eingestuft.
Die Protestierenden besetzen Straßenzüge und errichten dort Camps. Eines davon ist „Puerto Resistencia“ – „Hafen des Widerstands“, wie ihn die Rebellierenden nennen. Rolando Quintero, den sie in Puerto Resistencia liebevoll „El Profe“ („Prof“) nennen, war von Anfang an dabei. Über Whatsapp beschreibt er der taz die Gruppe: „Wir aus der Primera Linea sind eigentlich die Letzten. Wir stehen ganz hinten in der Schlange für ein würdevolles und glückliches Leben.“ Er selbst habe studiert, aber das gelte sonst für kaum jemanden in Puerto Resistencia; die Mehrheit der Jungs komme gerade so zurecht, für sie mache die Gesellschaft kaum Angebote. Dafür gebe es in ihrem Umfeld viel Gewalt: Gangs, rivalisierende Ultragruppen zweier Fußballvereine aus Cali und der Drogenhandel. „Viele verlieren ihr Leben auf der Straße“, sagt Quintero.
Auch in Puerto Resistencia soll Rebecca Sprößer medizinische Versorgungsmittel vorbeibringen. Das improvisierte bunte Camp hinter den Barrikaden habe sie überrascht, erzählt Sprößer. Eine Band macht Musik, es wird getanzt. Kleine Kinder spielen auf der Straße, während Mütter in großen Töpfen für die Gemeinschaft kochen. Es wird dunkel, aber Sprößer will nicht gehen, so wohl fühlt sie sich. Als die Leute zu ihr sagen, dass es nachts gefährlich werde, gibt es schon kein Taxi mehr, mit dem sie nach Hause fahren könnte. Also bleibt sie. Einer Freundin schreibt sie: „Mach dir keine Sorgen, die Jungs von der Primera Linea sind so süß und passen auf mich auf.“
Während sie erzählt, sucht Rebecca Sprößer einen Parkplatz im Frankfurter Vorort. „Mein Nachbar ist immer sauer auf mich, weil ich ihm den Parkplatz wegnehme. Typisch deutsch“, sagt sie genervt. Dann kommt sie wieder auf die erste Nacht in Puerto Resistencia zu sprechen. „Die Jungs haben mein Leben mehr beschützt als ihres, das war so unglaublich.“
Gefiel Sprößer ihre Rolle bei den Jugendlichen im Widerstand? Gefiel es ihr, im Mittelpunkt zu stehen? Die einzige Deutsche zu sein, die sich hierher traut?
Einige in Puerto Resistencia sehen Sprößer anfangs misstrauisch. Auch Rolando Quintero: „Ich dachte: Was macht diese Deutsche hier? Und was ist ihre Motivation?“ In der Primera Linea sind sie ständig auf der Hut vor Menschen, die die Polizei versucht in die Gruppen einzuschleusen, um Informationen zu erhalten.
Sprößer findet den Ort aufregend und die Jugendlichen sympathisch. Deren Euphorie und Tatendrang hätten sie angesteckt, erzählt sie. Sie kommt in den nächsten Tagen wieder und gewinnt zunehmend das Vertrauen der Gruppe. „Sie war respektvoll und sensibel. Und irgendwann hat sie hier praktisch gelebt“, berichtet Quintero. Jhoan Sebastián Bonilla Bermúdez, der 26-jährige Anführer der Gruppe in Puerto Resistencia, fällt Sprößer besonders auf. Er hat das Wappen des lokalen Fußballvereins auf die Brust tätowiert. „Ich habe noch nie einen Menschen mit so einer Aura kennengelernt“, sagt sie. „Er war so fokussiert und professionell. Alle hatten viel Respekt vor ihm.“
Je näher Sprößer den Menschen im Camp kommt, umso mehr sieht sie auch die Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Mehr als 40 Menschen werden in den ersten drei Wochen des Streiks getötet. Sprößers Videos fangen die Brutalität ein. „Als es immer krasser wurde, habe ich gedacht: Ich muss das an die Presse schicken.“ Aus ihrer Zeit bei der Videoproduktion in Mexiko hat sie Kontakte in deutsche Redaktionen, die sie anschreibt. Doch das Interesse ist begrenzt. Bis ihr ein Journalist einen Tipp gegeben habe: Sie solle selbst ins Bild. „Ich wollte niemals vor die Kamera, das ist echt nicht meins. Aber dann hab ich mich dazu gezwungen, und das haben die dann alle gern genommen. Boah, eine Deutsche, eine Weiße ist da, wo geschossen wird. Das ließ sich dann verkaufen“, erzählt Sprößer.
Auf den Videos wirkt es, als gefalle ihr die neue Rolle. Sie stellt sich auf den Demos als „deutsche Journalistin“ vor. Später sagt sie in einem Interview mit dem kolumbianischen Radiosender W-Radio, dass Journalismus ihr Traumberuf gewesen sei. Mit einem weißen Pressehelm, auf den sie eine Deutschlandfahne klebt, dreht sie Live-Videos und stellt sie auf Facebook und Instagram. In Deutschland greifen die Frankfurter Rundschau und der WDR ihre Berichte auf.
Die Deutsche wirkt so naiv wie entschlossen: In einem Video geht sie auf eine Gruppe von Polizisten zu und fragt sie vor laufender Handykamera, warum die Polizei auf Demonstrierende schießt. Die Polizisten sagen, sie würden sich nur gegen gewalttätige Randalierer verteidigen. Neun Minuten diskutieren sie. Sprößer geht wieder zu den Demonstrierenden, kurz darauf wird es unübersichtlich. Tränengasgranaten fliegen durch eine Wohnsiedlung. Sprößer ist immer noch live, sie ist selbst vermummt und trägt eine Schwimmbrille. Sie rennt, die verwackelten Bilder werden begleitet von Schreien. Sprößers hohe Stimme sticht heraus: „Kinder, hier sind Kinder und kleine Babys!“, schreit sie. „Sie greifen die Leute aus dem Viertel an.“ Und: „Wir haben hier nichts, nichts, keine Waffen, nichts.“ Einige Babys hätten nach den Tränengasattacken wiederbelebt werden müssen, erzählt Sprößer.
Das Video geht im Anschluss viral. Sie erhält auf Facebook nun 100 Freundschaftsanfragen pro Minute, wie sie erzählt. Auf einmal ist sie Influencerin in Kolumbien. Die einen feiern sie in den Kommentaren, weil sie auch dann mit der Handykamera draufhält, wenn keine Presse vor Ort ist. Die Regierungsunterstützer verachten sie: „Geh doch in deinem Land Chaos stiften, hau ab und vergiss Kolumbien“, kommentiert ein Nutzer ein Foto auf Instagram. Auch von Drohanrufen auf ihr Handy berichtet Sprößer.
Während andere aus der Primera Linea versuchen, ihre Anonymität zu waren, gibt Sprößer Interviews. Bald kennt man „die Deutsche aus der Primera Linea“ im ganzen Land. Ihre Reichweite wird so groß, dass sich ihr sowohl linke als auch rechte Kräfte annähern. Die einen, wie der Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, unterstützen sie auch noch, nachdem sie bereits wieder in Deutschland ist. Die anderen versuchen, den Hass gegen sie zu befeuern. Wie der rechte regierungsnahe Radiomoderator Luis Carlos Vélez, der sie als Unterstützerin der gewalttätigen Proteste sieht. In einem Interview fragt er sie: „Was passiert in Deutschland, wenn man einen Polizisten schlägt?“ Sprößer gerät ins Schwimmen. Vélez sagt: „Es ist sehr schlimm, dass Leute wie du in mein Land kommen und hier machen, was sie in ihrem Land nicht machen können.“
Sprößer wird vereinnahmt und angefeindet. Gleichzeitig lernt sie, die Aufmerksamkeit für die Primera Linea zu nutzen. Dachte sie anfangs noch, dass sie Journalistin sein könnte, macht sie jetzt die Pressearbeit in Puerto Resistencia. Medienanfragen laufen über sie; das bestätigen Mitglieder der Gruppe der taz. Auch Quintero, der sie anfangs noch kritisch gesehen hat, sagt heute über Sprößer: „Sie ist voll und ganz Primera Linea.“ Einige aber vertrauen Sprößer bis zum Ende nicht und möchten, dass sie bei wichtigen Treffen nicht dabei ist.
Die Gefahr für die Aktivist*innen geht von staatlichen und paramilitärischen Kräften aus, die teils auch in zivil auftreten. An einer Blockade sei ein Mann mit einer Pistole zu ihr gekommen, erzählt Sprößer. Er habe gesagt, dass er sie umbringen werde, wenn sie nicht verschwinde. Auch andere Mitglieder der Primera Linea berichten von Morddrohungen.
Ihre Eltern und Geschwister aus Deutschland versuchen Sprößer zu überzeugen, dass sie zurückkommt. Doch Sprößer will nicht. „Ich dachte damals noch, dass mir als Weiße nichts passieren wird“, sagt sie. Auch die Aktivist*innen der Primera Linea scheinen sich mit ihr sicherer zu fühlen. Auf Sprößers Videos rufen sie immer wieder der angreifenden Polizei entgegen: „Hier ist deutsche Presse!“ Sprößer fühlt sich wohl in ihrer Rolle: „Wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner“, erzählt sie rückblickend.
Dann seufzt sie, als hätte sie sich das alles nicht ausgesucht. Vor ihr steht das Aufnahmegerät. Sprößer ist mittlerweile in ihrer kleinen Wohnung in Frankfurt, in ihrem Wohnzimmer mit weißer Sofagarnitur und Souvenirs aus Mexiko und Kolumbien. Sie fühle sich hier nicht zu Hause, sagt sie.
In Puerto Resistencia identifiziert sie sich immer mehr mit den Jugendlichen, die gegen die Regierung kämpfen – bis ins Unheimliche. „Das klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich habe nach der Bedrohung mit dem Revolver zu meinen Compañeros gesagt: Wenn die so dumm sind und eine Deutsche erschießen, dann habe ich für das ganze Land gewonnen. Dann kommt die Veränderung, dann haben wir gewonnen.“
Es ist ein Satz, der viel über Sprößer sagt. Es wirkt, als habe sie tatsächlich geglaubt, in dem Konflikt eine historische Rolle einzunehmen. Die große Aufmerksamkeit in den sozialen Medien verstärkt diese Wahrnehmung. Sprößers Geschichte hätte sich ohne Social Media so wohl nicht ereignet – aber auch nicht ohne den Kontext vom Kolonialismus geprägter Machtverhältnisse: Als Deutsche erhält sie in Kolumbien deutlich mehr Reichweite als die Jugendlichen aus der Primera Linea.
Erlebte Sprößer in ihrer Helferinnenrolle eine so starke Selbsterfüllung, dass sie dafür ihr Leben aufs Spiel setzte? Oder geht es ihr in erster Linie um die Jugendlichen aus Cali?
Die meisten Tourist*innen verlassen in einer so angespannten politischen Lage das Land. Journalist*innen und humanitäre Helfer*innen halten aus Professionalität eine gewisse Distanz zu den Menschen. Und Rebecca Sprößer? Lässt diese Barriere fallen. So sehr, dass sie sich als Teil einer Gruppe fühlt, in der alle ihr Leben aufs Spiel setzen.
Es gibt noch einen Grund, warum Sprößer sich so verbunden fühlt: Jhoan Bonilla, der Anführer der Gruppe. Sprößer erzählt diese Liebesgeschichte heute mit viel Pathos. Wie genau ihre Beziehung zu Bonilla aussah, lässt sich nicht nachprüfen. Bonillas Mutter bestätigt in einem Radiointerview aber, dass es eine Anziehungskraft zwischen ihrem Sohn und Rebecca Sprößer gegeben habe.
Sicher ist: Am 22. Juli 2021 treffen sich Bonilla und Sprößer. Sie erzählt diesen Abend so: Es beginnt zu regnen, und Bonilla leiht ihr seine Jacke. Als es nur noch tröpfelt, laufen sie in Richtung eines kleinen Parks. Unter einem großen Baum steht eine Bank, sie setzen sich. Bonilla sitzt rechts von Sprößer. Sie sagt, plötzlich habe sie von schräg rechts vor sich den Lauf einer Waffe gesehen. Ohne etwas zu sagen, schießt der Attentäter so, dass die Kugeln in einer Linie zuerst Bonilla und dann Sprößer treffen. 13 Kugeln stoßen durch seinen Oberkörper und eine Tasche durch zu Sprößer, wo sie nicht mehr genug Kraft haben, um sie ernsthaft zu verletzen. Abgesehen von zwei Streifschüssen am Arm bleibt sie unverletzt. Jhoan Bonilla aber ist in Lebensgefahr.
Das ist Rebecca Sprößers Version der Tat. Die kolumbianische Polizei erklärt später in den Medien, es habe sich um einen Raubüberfall gehandelt. Sprößer gibt an, dass der Täter nach den Schüssen geflohen sei und nichts geklaut habe. Bis heute wurde kein Tatverdächtiger ermittelt.
Nach den Schüssen auf Jhoan Bonilla habe sich sein Zustand im Krankenhaus zunächst stabilisiert. Doch drei Tage nach dem Attentat geht es ihm schlechter. Aus Sicherheitsgründen habe ihr die Klinik verboten, weiter bei ihm zu sein, erzählt Sprößer. Kurz darauf wird Sprößer festgenommen, da sie sich an Aktivitäten beteiligt habe, die über den Zweck ihres Tourismusvisums hinausgingen. Am 28. Juli 2021 steigt sie in Begleitung von zwei Polizisten in einen Flieger nach Frankfurt. Im Flugzeug erhält sie die Nachricht, dass Jhoan Bonilla im Krankenhaus gestorben ist.
Zwei Monate später trägt Sprößer in Frankfurt noch immer die Jacke bei sich, die Bonilla ihr in der Nacht des Attentats geliehen hat. Sie sagt, irgendwo in ihr sei da noch Hoffnung, dass Jhoan Bonilla wieder auftaucht. Sie lebt nach wie vor im kolumbianischen Rhythmus, steht erst zur Mittagszeit auf und ist nachts wach, wenn die Nachrichten aus Cali auf ihrem Handy eintrudeln.
Sie will nicht, dass der Mord an Jhoan Bonilla einer von vielen unaufgeklärten bleibt, und sie will seiner Familie helfen, indem sie eine Spendenkampagne im Internet organisiert. Außerdem helfe sie ehemaligen Mitstreiter*innen von der Primera Linea bei der Beantragung von Asyl, erzählt sie. Sprößer erhält auch in Deutschland noch Drohungen auf ihr Handy, sagt sie. Details möchte sie aber nicht nennen, so habe sie es mit ihren Anwälten vereinbart.
Zu ihrer Familie hat Sprößer kaum Kontakt. Ihre Mutter habe kein Verständnis dafür, dass sie sich so in Gefahr begeben hat.
Sprößer sagt, sie sehne sich zunehmend nach Ruhe. Ruhe von den Drohungen und der Konfrontation. Deswegen kritisiere sie die kolumbianische Regierung nicht mehr. Auch ihre Social-Media-Profile haben sich verändert. Sie hat ihre Videos mit Polizeigewalt gelöscht. Die führten nur zu mehr Hass, sagt sie. Auch auf Instagram ist sie inzwischen nicht mehr aktiv. Auf Facebook schreibt sie immer wieder lange Posts über ihre Liebe zu Jhoan Bonilla.
Sprößers Erinnerungen kreisen zunehmend um ihren verlorenen Freund. Politik will sie gerade nicht machen. Eine Einladung des linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro, sich an seiner Kampagne zu beteiligen, lehnte sie ab. „Ich bin ja gar nicht so links“, sagt sie.
War Sprößer einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Sie würde sagen, sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. „Die Zeit in Cali war die glücklichste meines Lebens.“ Euphorie und Schmerz trafen sich täglich. Sie fühlte sich lebendig. Ausgerechnet im kolumbianischen Ausnahmezustand fand sie eine Rolle, die sie erfüllte. Jetzt, in Frankfurt, ist sie wieder auf der Suche nach ihrem Platz.
Einige Tage später meldet sich Rebecca Sprößer noch einmal telefonisch. Sie klingt niedergeschlagen. In Puerto Resistencia gebe es Streit. „Wir alle haben gerade eine schwere Zeit“, sagt sie, als sei sie noch immer dort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau