Von Ost nach West: Unbenommen angekommen
Warum glückte ihm, was andere nicht schaffen? Holger Schur ging 1991 in den Westen. Zurück wollte er nie.
Als er nach Baden-Württemberg kam, berlinerte er leicht, weil er dort ein Jahr als Soldat stationiert war. Deuten wir es als Zeichen, dass da jemand bereit ist, sich auf seine Umgebung einzulassen.
Sagen wir: Dies ist die erste Voraussetzung. Nicht nur weggehen zu müssen, sondern zu wollen. Holger Schur ist Jahrgang 1970. Bis zum zehnten Lebensjahr wächst er in Halle auf, dann zieht die Familie nach Magdeburg. Der Vater arbeitet als Bauingenieur, die Mutter bei der Sparkasse. Nach der Polytechnischen Oberschule macht er von 1986 bis 1988 eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenmonteur und arbeitet anschließend beim Bau des Kernkraftwerks Stendal. Es sollte das größte Atomkraftwerk der DDR werden, ging aber nicht mehr in Betrieb.
Uniformwechsel
Den eigentlichen Systemwechsel erlebt Schur bei der Armee. Im April 1990 wird er noch zur Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen, auf 12 Monate verkürzter Wehrdienst. „Unsere Hauptaufgabe war es, die Waffentechnik zu bewachen“, sagt er. Die DDR löste sich auf, es gab viele Diebstähle. Ein paar Monate später steckt man Schur in eine neue Uniform. Die alte der NVA darf er behalten, sie ist wertlos geworden, er wird neu vereidigt. Ein scheinbar nahtloser Wechsel.
Doch dann wird Schurs altes Kombinat abgewickelt. Mit einem Kumpel fährt er durch Deutschland und sieht sich Unternehmen an. Sie entscheiden sich, noch bevor sie einen Job haben, für Baden-Württemberg. Dort gibt es Industrie und mittelständische Unternehmen, vor allem Fahrzeug- und Maschinenbau. Der Kollege kennt in Eppingen nahe Heilbronn eine befreundete Familie, wo sie unterkommen.
Schur ist 21, als er im Westen neu anfängt. Ein biografischer Pluspunkt. Jung, ungebunden, handwerkliche Ausbildung und berufliche Erfahrung. „Von der Sprache her hat man es sofort gehört, wo ich herkomme“, sagt Holger Schur im Café. Blaue Jeans, blauer Pulli, Bart. Nicht sehr groß, prägnante Nase.
Hat er sich fremd gefühlt? – „Jein. Manchmal ja, manchmal nein.“
Die Anweisung seines Meisters am ersten Arbeitstag habe er nicht verstanden. Es gab Anspielungen, Neckereien: Wie das mit den Kampfsportgruppen in der DDR gewesen sei? Schur hat dann gekontert: „Ihr habt doch auch Schützenvereine hier.“ Oder ist witzelnd drüber hinweggegangen: „Die Aufbauhilfe Ost habe ich anders verstanden.“
Versteckt hat er sich nicht. Das in der DDR übliche Händeschütteln bei jeder Begrüßung hat er sich bis heute bewahrt.
Kein „Jammer-Ossi“
Schon nach vier Wochen findet Schur Arbeit, in einem mittelständischen Unternehmen in Leingarten, das Lkws ausrüstet, dort ist er heute Abteilungsleiter. Als in der Firma 1995 Entlassungen drohen, setzt sich sein Meister für ihn ein. „Das war vielleicht ein Punkt, wo ich mich angekommen fühlte“, sagt Schur nach etwas Nachdenken. „Und als ich meinen Meister geschafft habe, mit Abendschule.“
Er kennt viele, die wieder abgehauen sind, wie sein Kumpel, der Arbeit fand, aber keinen Anschluss. Andere, die erst gar nicht weggegangen und lieber arbeitslos geblieben sind. „Früher war ich da härter im Urteil als heute“, sagt Schur. „Wenn ich was erreichen will, muss ich mich bewegen.“ Dem Bild des „Jammer-Ossis“ hat er nie entsprochen. Das Thema nervt ihn ohnehin.
Das hat vielleicht mit seiner Herkunft zu tun. Er kommt aus einer Familie, die in und mit der DDR gut zurechtkam. Der Vater war Parteimitglied, der Onkel – „der Täve“ Schur – Volkskammerabgeordneter und dazu als Rennradfahrer und Weltmeister eine Berühmtheit in der DDR. Zu Hause wurde das Neue Deutschland gelesen, Politik ansonsten ausgespart. In Magdeburg nahm Schur im Herbst 89 an Demonstrationen teil – politisch organisiert war er nicht. „Es gab keine Situation, in der ich dachte, ich muss das Land verlassen.“
Trotzdem bricht er im Sommer 1991 auf. Kristina, seine spätere Frau, lernt Schur gleich zu Beginn kennen – sie ist die Tochter seines ersten Vermieters. Heute leben sie in Leingarten und haben drei Kinder: 8, 15, 17 Jahre alt. Die Liebe ist sicherlich ein wesentlicher Faktor, warum Schur sich voll und ganz auf den Westen einlässt.
Schwiegerfamilie aus Ungarn
Und auch hier, ein weiterer biografischer Zufall, der ihm hilft: Die Mutter seiner Frau kommt aus Ungarn. Regelmäßig fahren sie nach Budapest, „ich habe mich da immer wohl gefühlt, es gab viele Ähnlichkeiten“. Kristina Schur sagt nach dem Treffen am Telefon: „Wir kannten die Ost-Mechanismen, wir haben vieles verstanden.“
Spielt die unterschiedliche Sozialisation heute noch eine Rolle? Nein, sagt Kristina Schur, 48, sie unterrichtet Deutsch und Englisch. Nach kurzem Nachdenken fügt sie hinzu, „vielleicht in der Kindererziehung. Er ist der Strengere. Und ich finde das Autoritäre nicht immer angemessen.“
Beide tun sich schwer mit einem Teil der ostdeutschen Verwandtschaft, es gibt Familie in Magdeburg und Chemnitz, bei Einzelnen kursieren die Verschwörungstheorien der Rechten, andere lehnen die angebliche westliche Arroganz oder Einmischung ab. „Früher habe ich da mehr Offenheit erlebt“, stellt Kristina Schur fest. „Obwohl es ihnen gut geht, wird das Positive nicht gesehen. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.“
Auch Holger Schur berichtet von quälenden Diskussionen, über die Flüchtlingspolitik, Ausländer. „Ihr habt doch gar keine, sage ich immer.“ Oft steigt er dann aus den Diskussionen aus. „Ich komme da nicht ran.“
Das „Heilig's Blechle“
Am Marktplatz in Heilbronn lässt ein blauer BMW den Motor aufjaulen und braust davon. „Das ist Heilbronner Kultur“, amüsiert sich Schur. „Ich dachte schon, das wäre ausgestorben.“ Dass im Land der Autobauer das „heilig Blechle“ so viel zählt, also „wer was fährt“, dieses Statusdenken habe ihn anfänglich irritiert. „Es sind verschiedene Mentalitäten“, sagt Schur. „In der DDR war man froh, dass man überhaupt ein Auto hatte.“ Gab es dafür dort mehr Gemeinschaftsgefühl? – „Nein. Sie sind schon gesellig hier.“
Gegenüber vom Café stehen mehrere Polizeiwagen, versprengte Trupps von Pro- und Anti-Türkei-Demonstranten sind in der Stadt unterwegs. Der Platz mit historischer Rathausfassade und Kilianskirche ist ein Mischmasch aus Alt und Neu, Heilbronn wurde zu großen Teilen im Zweiten Weltkrieg zerstört. In der Stadt leben viele Menschen mit türkischen Wurzeln – und mit russischen. Insgesamt macht der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund fast 50 Prozent aus. Der Kulturenmix gefällt Schur, Integration heißt für ihn, „sich einbringen“.
Hat er manchmal Sehnsucht nach seiner alten Heimat? Ein klares „Nein“. Seine Geschwister und Eltern leben in Magdeburg, der Kontakt ist gut. Schur überkommen dort weder Beklemmungen noch wehmütige Anwandlungen. Diskussionen gibt es jedes Mal, sagt Schur. Vor allem seine Frau diskutiere viel mit seinen Eltern. „Aber ich glaube, mein Schwiegervater diskutiert nicht gern mit mir“, sagt Kristina Schur und lacht. „Du hast nicht in dem System gelebt“, heißt es dann. „Ich glaube, da spielt viel Verdrängung mit“, sagt sie. Ihr Mann hält es auch für eine „Generationenfrage“.
Geredet wird in dieser Familie, gestritten in Maßen. „Wenn er genauer nachdenkt“, sagt Schur über die Gespräche mit seinem Vater und Onkel, „dann sind das mehr Geschichten, wie es früher war, und nicht, warum es so war.“ Sein Vater habe seine Stasiakte nicht einsehen wollen. Auch er hat seine Akte nie beantragt. Als sich vor Jahren ein Onkel als Stasispitzel outete, sorgte das für einen Riss in der Familie.
Der „Täve“
Trotzdem, auf den alten „Täve“ Schur, den Rennrad-Weltmeister und ehemaligen Volkshelden, lassen sie nichts kommen. Trotz seines unbeirrten Festhaltens an der DDR, seiner Verteidigung des Mauerbaus und Schießbefehls, seiner Aussagen zum Sportdoping. „Er ist sich treu geblieben“, sagt Holger Schur. „Er hängt an den alten FDJ-Idealen, aber er lebt sie auch.“
Es ist gut gegangen bei Holger Schur. Er ist angekommen. Das verdankt er in erster Linie sich selbst, seiner offenen, ruhigen Art, vielleicht auch einer gewissen Strenge mit sich selbst. Für seinen Kumpel, mit dem er einst nach Eppingen gezogen war und der bald wieder nach Magdeburg ging, gilt das nicht. Seine Geschichte lässt sich nicht mehr erzählen. Als er das letzte Mal zu Besuch kommen wollte, verunglückte er tödlich auf der Autobahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken