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Vom Netz auf die StraßeBerlin follows Tiktok

Immer größer wird der Einfluss von Tiktok darauf, wer Berlin wie wahrnimmt. Das hat auch Auswirkungen auf das analoge Leben – und auf die Politik.

Wer Berlin verstehen will, muss auch Tiktok verstehen Foto: xlustre1409814x/imago

Berlin taz | Du hast in der Nacht von Donnerstag auf Freitag nicht vor dem Alexa-Einkaufszentrum gezeltet, um eine limitierte Labubu-Plüschpuppe im neu eröffneten Pop Mart-Store zu ergattern? Du pilgerst nicht zum legendären Hauseingang in Kreuzberg, vor dem Pashanim sein Musikvideo gedreht hat und wartest nicht vor der East Side Mall, um Zahide vor ihrer Tanzschule abzufangen? Dann lebst du vielleicht in Berlin – aber nicht in dem Berlin, das auf Tiktok täglich viral geht.

Ein Fehler. Denn im Berlin 2025 entscheiden nicht mehr allein der Senat, die etablierte Kunstszene oder Werbekampagnen, was in der Stadt wichtig ist und wie sie wahrgenommen wird. Als Machtzentrum dazugekommen ist die Berliner Tiktok-Community. Und wer die Stadt verstehen will, sollte sie nicht länger ignorieren.

Wie könnte man auch. Es wäre fahrlässig nicht wahrzunehmen, dass die erfolgreichste Tiktokerin der Stadt mit 8 Millionen Fol­lo­wer:­in­nen mehr als doppelt so viele Menschen erreicht, wie Berlin Ein­woh­ne­r:in­nen hat. Mit gerade erst 15 Jahren ist Zahide Kayaci (Zah1de) in kürzester Zeit zu einer der deutschsprachigen Top-Influencer:innen aufgestiegen.

Berlin tokt

Der Puls der Stadt schlägt heute im Netz – vor allem auf TikTok. Hier werden Stars geboren, Trends gesetzt und Wahlkämpfe entschieden. Die taz.berlin schaut in die digitale Paralllwelt. Alle Texte der Serie finden sich unter dem Schwerpunkt „Berlin tokt“.

Die Kreuzbergerin tanzt bei der Tanzschule Lunatix mit Standorten in Charlottenburg und Friedrichshain. Über Tiktok wurde Universal Music auf Zahide aufmerksam. Ende 2024 unterschrieb sie dort einen Vertrag. Seitdem veröffentlicht sie einen Song nach dem anderen. „Mona Lisa Motion“ vom März 2025 erreichte in Deutschland Platz 9 der Singlecharts, „Zahide Did It Better“ landete auf Platz 15. Die Tanzschule wird seitdem regelmäßig von Fans überrannt, Zahide selbst singt: „200 campen vor der Tanzschule.“

Mit wenigen Videos zum Ruhm

Auch andere Tiktoker feiern Zahide: Der Moabiter Rapper Apsilon (apsilon21) postete auf Tiktok ein Tanzvideo zu „Zahide Did It Better“ und kommentierte: „Late to the Party aber vallah stark“. Nicht alle sind so begeistert: Auf Tiktok wird ihr vorgeworfen, Beats vom Rapper Pashanim zu kopieren.

Pashanim (blockboycan) äußerte sich dazu nicht. Der sorgt in Berlin selbst mit seinen Tiktoks für Aufruhr. Seitdem der 24-jährige das Video zu seinem Track „Hauseingang“ in einem Hauseingang in der Nähe des Mehringdamm drehte, ist daraus über Nacht eine Pilgerstätte für seine Tiktok-Fans geworden.

Rund 100 Fans strömen jeden Tag dorthin, taggen an die Fassade: „Pasha“, „amore çok“ oder „Pasha wir lieben dich. Sie filmen sich dort beim Rappen seiner Texte und posten das wiederum wo? Na klar, auf Tiktok. Die Hausverwaltung hat inzwischen mehr als 25.000 Euro für die Graffiti-Beseitigung gezahlt, erste An­woh­ne­r*in­nen ziehen aus, weil es ihnen mit all den Fans zu laut ist

Dass Tiktok immer häufiger vom Netz auf die Straße schwappt, zeigte sich auch in der Nacht auf Freitag als hunderte Fans, teilweise bereits seit dem Vorabend, am Alexa auf die Eröffnung eines Pop-up-Stores für Labubu-Puppen warteten. Die Plüschfiguren aus der Bilderbuchreihe „The Monsters“ haben auf Tiktok einen derartigen Hype erzeugt, dass Fans bereit sind, selbst vierstellige Summen für sie zu bezahlen.

Von Gefahren und Geschäften

Was auf Tiktok viral geht, hat Auswirkungen – kaum verwunderlich angesichts von 25 Millionen monatlichen Nut­ze­r:in­nen bundesweit, die meisten davon unter 40 Jahren, 60 Prozent von ihnen weiblich. abei ist die Videoplattform des chinesischen Technologiekonzerns ByteDance zweifelsohne mit allerhand Gefahren verbunden: Problematisches Konsumverhalten vor allem von Jugendlichen, auf Provokationen zielende Algorithmen und mangelhafte Content-Moderation.

Erst vergangene Woche streikten Angestellte aus Tiktoks Deutschland-Zentrale in der Stralauer Allee gegen ihre bevorstehende Entlassung. An ihrer Stelle sollen künftig Billig-Arbeiter:innen im Ausland, vor allem aber die KI entscheiden, was auf der Plattform erlaubt ist und was nicht. All das ändert derweil nichts daran, dass Tiktok zum globalen Wirtschaftsfaktor geworden ist. Immer öfter zeigt sich das auch im Berliner Stadtbild.

Wenn sich vor Läden und Restaurants ellenlange Schlangen bilden, ist das vermutlich einem Trend auf der Plattform zu verdanken. Ein Paradebeispiel ist der Waffelladen „Wonder Waffel“ in der Mall of Berlin. Fast 100 Millionen Aufrufe auf ihre Tiktoks sind als Werbemaßnahme durch nichts zu ersetzen. Und während Mustafas Gemüse Döner noch vom Lonely-Planet-Publikum zehrt, rennen junge Tou­ris­t:in­nen längst dem Gemüser-Döner von Zagros in der Skalitzer Straße die Bude ein.

Doch auch für ernsthafte Themen wird Tiktok erfolgreich genutzt. Ein Aufruf in einem Neuköllner Späti, Bargeld gegen Lebensmittelgutscheine zu tauschen und damit Geflüchteten aus den Zwängen der Bezahlkarte zu helfen, wurde nicht nur fast 100.000 mal angesehen, sondern führte auch dazu, dass alle Gutscheine schon am ersten Abend getauscht waren.

Die Politik kommt nicht mehr dran vorbei

Dass Tiktok inhaltlich weitaus mehr ist als Tanzen und Popkultur zeigte sich schon beim vergangenen Bundestagswahlkampf. Hier schoss Heidi Reichinneks Brandmauer-Rede durch die Decke und zog hunderttausende vor allem junge Wäh­le­r:in­nen zur Linken. Viele hinterließen nicht nur Herzen, sondern fanden auch den Weg in die Partei. Die neuen Mitglieder sind mehrheitlich unter 35 und weiblich. Für die Abgeordnetenhauswahl im kommenden Jahr bedeutet das: Auch in Berlin können Wahlen auf Tiktok gewonnen werden – oder verloren.

Im Zeitalter der Personalisierung, die Politik und soziale Medien gleichermaßen erfasst hat, sind es vor allem Einzelpersonen, die den Unterschied machen können. Der Neuköllner Linke Ferat Kocak zeigt mit mehr als 5 Millionen Likes, wie Politik zielgruppengerecht aufgearbeitet wird. Mit Videos von Bundestagsreden unter dem Titel „Mashallah“ bis Lipsync-Videos von Zahide, also dem synchronen Bewegen der Lippen zu einem Audio, trifft er den Ton, besser als alle anderen Berliner Politiker:innen.

Wer Street- beziehungsweise Netz-Credibility nur vortäuscht, scheitert. Franziska Giffeys meist gesehenes Video zeigt sie bei der Eröffnung eines Kuchenbasars – unterlegt mit einem Song von Pashanim. Erfolgreich wurde es aber nur durch ein Repost des Rappers, versehen mit dem Text: „Wählt diese Flaschen bitte nicht.“

Dabei ist es ausgerechnet die alte Tante SPD, die im Vergleich der Accounts der Landesparteien noch am besten abschneidet. Allerdings erzielt sie mit 12.000 Followern und insgesamt 100.000 Likes nicht annähernd die Reichweite wie ein x-beliebiges Döner-Test-Video. Über die Popularität der Accounts von Linken, CDU und Grünen legt man besser gleich den Mantel des Schweigens.

Ein Swipe von der AfD zu militanten Nazis

Erfolgreicher ist da die AfD, die erste Partei, die die Bedeutung von Tiktok verstanden und entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt hat.

Mit mehr als 30.000 Followern hat etwa die AfD Marzahn mehr Gefolgschaft als alle anderen Parteien-Accounts zusammen. Ein eher unscheinbarer Abgeordneter wie Tommy Tabor schafft es mit dem Geraune von Anschlagsplänen auf Parteichefin Alice Weidel schon mal auf eine halbe Million Views – auch weil der polarisierende Content vom Plattform-Algorithmus goutiert wird.

Bei der rechtsextremen Partei angelangt, ist der Weg zu Neonazi-Inhalten nur noch einen Wisch entfernt. Da werben dann die neuen subkulturellen Neonazigruppen mit Mob-Bildern um neue Anhänger und versuchen, „Ostmullen“ mit Reichsadler-Fahnen im Hintergrund und Landser-Songs auf den Lippen, neonazistische Ästhetik und das dahinterstehende Gedankengut trendy zu machen.

Neonazi-Gruppen wie die Deutsche Jugend Voran (DJV) tauchten zunächst in sozialen Netzwerken wie Tiktok auf und fanden dann erst ihren Weg auf die Straßen, wie auch am Samstag bei einer Kundgebung gegen den Berliner CSD.

Auch die Sicherheitsbehörden beobachten die Radikalisierung, die auf Tiktok ungebremst stattfinden kann. Der Berliner Verfassungsschutz schuf kürzlich einen neuen zu beobachtenden Phänomenbereich: gewaltorientierte rechtsextremistische Netzkulturen.

Doch der dystopische Blick auf Tiktok allein hilft nicht weiter: Vielmehr geht es darum, die Vielfalt Berliner Lebensrealtitäten, die sich dort abspielt, in den Blick zu nehmen und die Bedeutung für die Stadt aufzuzeigen. Wir tun das künftig mit unserer Serie „Berlin tokt“.

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