Vom Leben mit unheilbar Erkrankten: „Unser Glück wohnt noch bei uns“
Ein Elternpaar erfährt, dass seine Kinder eine seltene Erkrankung haben. Sie werden nach und nach alles verlernen. Wie damit umgehen?
Schon der Weg zur Schule: Der Rucksack ist Nils inzwischen zu schwer. Er zieht einen Rollkoffer hinter sich her. Das ist ihm unangenehm, keiner sonst hat so ein Ding.
Wenn Nils morgens der Mut verlässt, redet sein Vater mit ihm. Dass es gut ist, weiter zur Schule zu gehen. Dass er es schaffen wird. Manchmal dauert das Stunden. Häufig macht sich Nils dann doch auf den Weg. In letzter Zeit bleibt er immer öfter zu Hause.
Nils und sein kleiner Bruder Ole, 10, haben eine seltene genetische Erkrankung, die Friedreich-Ataxie. Ihr Körper produziert zu wenig Frataxin, ein Protein, das wichtig ist, um die Zellen intakt zu halten. Das Rückenmark verändert sich. Betroffene können ihre Bewegungen immer schlechter steuern, sie werden schwächer. Die Krankheit geht auch aufs Herz. Findet sich keine wirksame Therapie, dann werden Nils und Ole mit der Zeit alles verlernen: Laufen. Schreiben. Sprechen. Sehen. Schlucken. Im Schnitt sitzen Betroffene zehn Jahre nach der Diagnose im Rollstuhl, weitere zehn bis zwanzig Jahre später sterben sie. Es kann länger dauern, es kann auch deutlich schneller gehen. Bislang ist die Krankheit unheilbar.
Begleiten bis zum Tod
Kinder leben im Jetzt. Aber sie sind immer auch Zukunft, Verheißung. Vieles steht ihnen offen. Sie wollen lernen, wachsen, die Welt entdecken. Eltern versuchen, sie dabei zu unterstützen, damit sie später allein klarkommen. Aber was, wenn sich alles ins Gegenteil verkehrt? Wenn es statt ums Lernen und Loslassen ums Begleiten geht, irgendwann um Pflege bis zum Tod? Wie kann eine Familie mit diesem Wissen leben?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ein Montagnachmittag im Frühjahr. Vor dem Fenster der Hamburger Mietwohnung rauscht der Verkehr vorbei. Drinnen, am Holztisch in der Küche, erzählen die Fiedlers ihre Geschichte. Die Fiedlers, das sind Mutter Christine, Vater Uwe, Nils und Ole. In Wirklichkeit heißen sie anders. Sie lassen sich fotografieren, wollen aber nicht, dass jeder beim ersten Googeln von ihrer Situation erfährt.
Tulpen auf dem Fensterbrett, neue Regale, ein altes Küchenbuffet, die Fiedlers haben sich gemütlich eingerichtet. Christine, eine große Dunkelhaarige, plaudert ein bisschen zum Warmwerden. Dann berichtet sie klar und offen von den Ereignissen der vergangenen zwei Jahre. Christine hat kein Problem damit, wenn ihr dabei die Tränen kommen. Uwe, in St.-Pauli-Shirt und mit schwarzer Brille, hält sich stärker zurück, doch im Laufe des Abends wird auch er erzählen, offen und reflektiert.
Herzgeräusch
Man könnte meinen, eine Geschichte wie die der Fiedlers könnte nur bedrückend sein. Doch es gibt auch die schönen Momente. An diesem Abend und in ihrem Alltag.
Im Frühling 2016 weiß die Familie noch nichts von der Krankheit. Die Fiedlers sind vor ein paar Monaten von London nach Hamburg zurückgezogen. Uwe arbeitet für ein internationales Ölunternehmen, die letzten drei Jahre in Großbritannien. Christine hat gerade mit einer Bekannten eine eigene Firma für Online-Marktforschung gegründet. Das macht ihr Spaß, bedeutet aber auch Überstunden und Stress.
Nils, zu dieser Zeit 11 Jahre alt, ist aufs Gymnasium gewechselt. Er diskutiert gern alles aus. Nils schreibt auch in der neuen Schule gute Noten und spielt in den Pausen mit den anderen Kindern. Trotzdem vermisst er seine Freunde in London. Bei Ole ist es umgekehrt: Viele Klassenkameraden wollen sich nachmittags mit ihm verabreden. Im Unterricht ist er verträumt, er schreibt langsam. Ole hat ADS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Dass andere besser sind als er, stört ihn nicht, Ehrgeiz ist ihm fremd.
Die Familie findet sich gerade wieder in den Hamburger Alltag ein. Da hört der Kinderarzt bei einer Vorsorgeuntersuchung von Nils ein Herzgeräusch. Auch seine Bewegungen seien auffällig, sagt der Arzt. Er schickt die Fiedlers zum Kardiologen. Der stellt eine verdickte Herzmuskelwand fest. Ungewöhnlich. Im Universtätsklinikum Eppendorf ordnet die Kinderneurologin einen Gentest an. Sie hat einen Verdacht: die Friedreich-Ataxie.
Christine googelt noch in der Klinik. Bei Wikipedia steht, das sei eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. „Erste Symptome zeigen sich meist vor dem 25. Lebensjahr. Die Krankheit verläuft progredient“ – also fortschreitend.
Sechs Wochen später kommt das Ergebnis des Gentests. In der Klinik sagt die Kinderneurologin: „Ich muss den Verdacht leider bestätigen.“
Wie in Zeitlupe
Christine und Uwe verlassen die Klinik. Es ist ein warmer Junitag, die Kinder haben noch Schule. Sie steigen auf ihre Räder und fahren einfach los, kreuz und quer durch Hamburg. Bitte, bitte, bitte, lieber Gott, das kann nicht sein, denkt Christine. An der Alster gehen Menschen spazieren, essen Eis. Eine gebräunte ältere Dame mit Perlenkette trinkt mit einem jüngeren Mann einen Kaffee. Christine nimmt all das überdeutlich wahr, wie in Zeitlupe. Sie sieht sich selbst von oben, mitten in diesem sommerlichen Treiben. So erzählt sie es später. Damals denkt sie: Die Sonne scheint, aber nicht für uns.
Im Park liegen sich die Eltern in den Armen. Es ist das erste Mal, dass Christine ihren Mann weinen sieht.
Als Christine am Küchentisch vom Tag der Diagnose berichtet, wird ihre Stimme dünn. Doch sie redet weiter. Sie will die Krankheit, die kaum jemand kennt, in die Öffentlichkeit bringen.
„Uns kann nichts passieren“
Die Friedreich-Ataxie ist sehr selten. In Mitteleuropa ist ungefähr einer von 50.000 Menschen betroffen. In Deutschland leben um die 1.600 Personen mit der Krankheit. Nur wenn bei beiden Elternteilen ein bestimmtes Gen verändert ist, kann sie auftreten.
Wie bei Uwe und Christine. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines ihrer Kinder die Friedreich-Ataxie hat, liegt bei 25 Prozent. Ein halbes Jahr später erfahren sie: Auch Ole ist betroffen.
Vielleicht hätte man etwas ahnen können. Im Nachhinein fallen den Eltern Dinge ein. Warum die Kinder sich immer so sträubten, mit dem Rad die wenigen Kilometer zur Schule zu fahren. Oder dass Nils beim Fußball schon länger lieber in der Abwehr spielte, weil er da nicht so viel rennen musste.
Aber wer denkt schon an so etwas? Christine sagt: „Ich war mir immer sicher, uns kann nichts passieren.“ Dieses Grundvertrauen zerspringt im Sommer 2016.
Regungslos weinen
Die Diagnose ändert alles für die Familie. Jeden Morgen, wenn Christine wach wird, trifft sie nach wenigen Sekunden die Erkenntnis: Nein, es war kein böser Traum, es ist wahr. Meine Kinder sind krank. Sie weint viel, oft mehrere Stunden am Tag. Die Trauer fordert ihren Raum. Das Weinen gehört bald zu Christines Tagen wie das Zähneputzen. Sie lernt, dass sie selbst in der U-Bahn weinen kann, ohne dass es jemand merkt. Man darf nur nicht das Gesicht verziehen, dann sieht es aus wie eine Bindehautentzündung.
Die Angst schnürt ihr die Luft ab, hindert sie am Schlucken. Sie lässt von einem Arzt ihren Kehlkopf untersuchen, er findet nichts.
In anderen Momenten erfasst Christine eine große Wut. Aber auf wen soll sie wütend sein? Sie fühlt sich in dieser Zeit, als zerfalle sie in verschiedene Christines. Ein Teil trauert. Ein Teil ist wütend. Und ein Teil glaubt immer noch, sich verhört zu haben.
Sie redet mit Freunden über ihre Gefühle, mit der Familie. Das hilft etwas.
Schuldgefühle
Uwe zieht sich zurück, wenn es ihm schlecht geht. Er versucht, möglichst wenig an die Krankheit zu denken. Das klappt tagsüber im Büro ganz gut. Aber er ist unausgeglichen, fährt Kollegen auch mal grundlos an. Er hat Schuldgefühle. „Es sind doch meine Gene. Es ist ein Scheißgefühl, dafür verantwortlich zu sein, dass die eigenen Kinder krank sind.“ Uwe sagt das ganz ruhig, inzwischen hat er Abstand dazu. Und doch schwingt die Bitterkeit noch immer mit.
Uwe versteht nicht, wie Christine nach der Diagnose mit so vielen Menschen über die Krankheit reden kann. Christine versteht nicht, warum Uwe sich so verschließt. Sie brauchen sich mehr denn je und sind sich gleichzeitig fremd.
Neben all dem funktionieren sie. Sie halten den Familienalltag am Laufen. Sie bringen die Jungen zur Physiotherapie, vereinbaren Arzttermine, drücken Vitaminpillen in Eierbecher.
Dialog zwischen Nils und Ole
Nils will bei dem Gespräch an diesem Montag im Frühjahr dabei sein, zumindest teilweise. Er sitzt am Kopf des Küchentischs, das Bein aufgestellt, und erzählt mit heller Stimme von der Krankheit. Er redet langsam, als strenge ihn das Sprechen an. Er sagt: „Ich will einfach so sein wie alle anderen.“
Nils weiß sehr bald, was los ist. Nach der Diagnose schaut er im Internet nach, was Friedreich-Ataxie bedeutet. Er spricht nicht darüber. Aber seine Eltern sind sich sicher: Ihm ist sehr klar, was auf ihn zukommt. Als er sich beim Fahrradfahren unsicher zu fühlen beginnt, lässt er es sofort sein. Früher hat er Klavier gespielt, gestrickt, Bügelperlenbilder gesteckt. Nun sagt er: „Ich kann das nicht mehr.“ Und rührt die Sachen nicht mehr an.
Die Diagnose vereinfacht auch manches. Beim Judo musste Nils früher immer zum Aufwärmen eine halbe Stunde im Kreis laufen. Wenn er nicht mehr konnte, sagte der Trainer: „Streng dich an, du sollst doch ein Vorbild sein für die Kleinen.“ Nils, der immer alles richtig machen will, hat das getroffen. Zum Judo muss er nun nicht mehr.
Zwischen den Kindern
Ole, blond, schlaksig und fast genauso groß wie sein Bruder, hat dieses Problem nicht. Dass er sich nicht mit anderen vergleicht, dass er niemandem besonders gefallen will, hilft ihm jetzt. Manchmal wirkt er wie der Stabilste in der Familie.
Eine Unterhaltung zwischen Nils und Ole, an die sich die Eltern erinnern:
„Ole, du hast auch Friedreich-Ataxie. Macht dir das denn nichts aus?“
„Ob ich ADS habe oder Friedreich-Ataxie, ist doch egal.“
„Ole, wir werden irgendwann im Rollstuhl sitzen.“
„Na und? Hauptsache, er ist schnell.“
Verletzende Sätze
Freunde der Familie kümmern sich um sie. Sie schreiben Karten und rufen an. Sie gründen einen Verein, um Spenden zu sammeln. Damit unterstützen sie Forschungsprojekte und betroffene Familien finanziell. Christine sagt: „Diese Solidarität, die trägt mich.“
Es gibt aber auch Sätze, die verletzen. Wenn die Nachbarin erklärt, das Schicksal suche sich für so etwas starke Eltern aus, sie hätten sich ja schon immer so toll um die Jungen gekümmert. Das ist nett gemeint. Aber Christine und Uwe macht es wütend. Hätten sie etwa schlechtere Eltern sein sollen? Jede Art von Kausalität können sie nicht akzeptieren. Denn das hieße ja, sie hätten etwas tun können, um die Krankheit zu verhindern.
Einmal sagt eine Bekannte von Christine, mit so einer Diagnose könne man nicht mehr glücklich sein. „Weißt du, was du da sagst?“, fragt Christine. „Du sprichst mir für immer mein Glück ab.“
Anders als Uwe liest Christine alles über die Krankheit. Sie vernetzt sich, wird aufgenommen in ein geschlossenes Forum im Internet, in dem sich betroffene Familien über die Friedreich-Ataxie austauschen. „Sie sind die Einzigen, die unsere Lage wirklich nachvollziehen können. Durch sie fühle ich mich weniger allein“, sagt Christine. Die Mitglieder der Gruppe teilen ihre Verzweiflung, aber sie machen sich auch Mut oder tauschen Erfahrungen mit Medikamenten aus. Im Nachhinein erfahren die Fiedlers, dass sie zumindest mit den Ärzten Glück gehabt haben. Viele Betroffene brauchen Jahre, bis einer die Krankheit überhaupt erkennt. Das bedeutet unzählige Arztbesuche, die zu nichts führen. Eine zermürbende Ungewissheit, teils jahrelang.
Christines Strategie
Manchmal grübelt Christine, wie ihre Kinder die Zukunft meistern sollen. Dann sieht sie Nils und Ole, wie sie gerade über X-Men-Figuren diskutieren. Und denkt: Wie bescheuert bin ich eigentlich? Ich sorge mich, dabei haben die Kinder gerade voll den Spaß.
Solche Situationen gibt es öfter. Ein halbes Jahr nach der Diagnose, Anfang 2017, beginnt Christine, einen Blog zu schreiben, den bald zwischen 500 und 1.000 Menschen im Monat lesen. Sie schildert dort den Alltag der Familie. Sie formuliert so etwas wie eine Strategie, mit der Krankheit umzugehen – und definiert, was ihr dabei hilft:
„1. Die Erkenntnis, dass niemand sich so eine Diagnose aussucht. Sie ist einfach da. Niemand hat sie verdient und niemand trägt Schuld daran.
2. Wir müssen Abschied nehmen, von vielen Dingen, die wir uns erhofft haben für unsere Kinder.
3. Wir haben (wie alle Eltern) die tollsten, wunderbarsten und süßesten Kinder der Welt.
4. Wir haben jeden Tag aufs Neue die Chance, diesen Tag zu einem bestmöglichen Tag zu machen.“
Das wird nun Christines Ziel: Im Rahmen des Möglichen glücklich zu sein.
Zum Beispiel im Urlaub in Portugal, im Frühjahr 2017. Ole und Nils schmeißen sich in die Wellen. Für Nils ist es inzwischen schwer, stehen zu bleiben, wenn das Meer sich zurückzieht. Dann strauchelt er. Spaß hat er trotzdem. Ole ist kaum zu halten, so gern stürzt er sich ins Wasser. „Kurz mal nicht nachgedacht, zack, glücklich“, schreibt Christine im Blog.
An Ostern sind sie zu Besuch bei den Großeltern, die kümmern sich um die Enkel und kochen. Christine und Uwe liegen auf dem Sofa rum. Sie sammeln Schokoladeneier, gehen spazieren, reden über unwichtiges Zeug. Wenn sich die Kinder streiten, motzen die Eltern. Ganz normal. Schön.
Christine schreibt: „Bevor die Krankheit Friedreich-Ataxie in mein Leben grätschte, hätte ich nicht vermutet, wie viel Glück und Trauer in ein und denselben Tag passen. Ich hadere in den dunklen Momenten mit der Diagnose meiner Kinder und bin zehn Minuten später unglaublich stolz auf sie oder genieße einen schönen Moment. Glück misst sich nicht in der Abwesenheit von Trauer. Auf jeden Fall nicht unser Glück.“
Früher fand Christine Kalendersprüche doof, kitschig, wer braucht schon so etwas. Jetzt fällt ihr eine alte Karte in die Hand, von ihrer Schwiegermutter. Darauf steht: „Nicht alle Träume werden wahr. Aber immer kommt ein neuer Morgen und ein Vogel singt im Baum.“ Heute tröstet sie das. Sie stellt die Karte ins Regal.
„Scheiß drauf“
Die Krankheit verändert die Prioritäten, auch in der Erziehung. Die Kinder dürfen jetzt mehr Computer spielen oder an der Playstation zocken als früher. Da können sie wenigstens mal abschalten. Wenn sie abends ins Bett müssen, es aber gerade so schön ist zu viert, sagen sich die Eltern: „Scheiß drauf.“
Christine erzählt, dass sich die Kinder manchmal kloppen, mit Kissen und Decken, und sie sitzt entspannt im Arbeitszimmer am Rechner. „Früher wäre ich wahrscheinlich schon fünfmal eingeschritten, jetzt überlege ich, ob sie deswegen an diesem Tag ihre Übungen für die Muskeln nicht mehr machen müssen.“ Es freut sie, dass die Jungen stark genug sind, sich auf dem Boden zu wälzen und wieder aufzustehen und dem anderen ein Kissen überzubraten. Christine sagt: „In mancherlei Hinsicht ist mein Leben um einiges einfacher geworden.“
Es gibt auch die anderen Momente. Die Familie beschreibt einen Tag im Frühjahr 2017. Christine und die Kinder sind im Garten, sie üben Elfmeterschießen. Nils ist Torwart, er schmeißt sich mal nach links, mal nach rechts. Das strengt ihn an, aber es macht Spaß. Irgendwann ist er erschöpft, er geht in den Flur, setzt sich auf die unterste Stufe der Treppe. Er will jetzt in die Wohnung. „Aber ich bin einfach nicht mehr hochgekommen“, erzählt Nils. „Ich konnte nicht aufstehen.“ Für Christine ist er zu schwer, sie kann ihn nicht tragen. Sie warten ab. Nach einer halben Stunde schafft Nils es schließlich doch hinauf.
Das Herz hat es eilig
Oben misst ihm Christine den Puls. 150 Schläge pro Minute. 180. Nils’ Herz hat es eilig. 200. 220. 250. Christine ruft den Krankenwagen. Nils ist sauer, er will nicht, dass so viel Aufhebens um ihn gemacht wird. Im Krankenhaus bekommt er einen Betablocker. Fünf Tage bleiben sie, damit das Medikament richtig eingestellt werden kann. „So viel Zeit haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander verbracht“, schreibt Christine im Blog. Sie spielen Spiele und surfen zusammen im Internet. „Es könnte wirklich nett sein, wenn wir doch nur zum Spaß hier wären.“
Die Friedreich-Ataxie wurde erstmals 1863 von dem deutschen Neurologen Nicolaus Friedreich beschrieben. Seit 1996 lässt sich die Krankheit per Gentest eindeutig bestimmen. Dass die Friedreich-Ataxie so selten auftritt, hat Folgen: Für die Pharmaindustrie ist es wenig interessant, an Medikamenten zu forschen, zu gering wäre der Absatz. Auch öffentliche Gelder fließen erst seit einiger Zeit in die Erforschung seltener Erkrankungen. Noch vor zehn Jahre sah es düster aus, inzwischen tut sich aber schon etwas. Seltene Erkrankungen wurden auch im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD zumindest erwähnt.
Seltene Erkrankungen: In der EU gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Schätzungen zufolge leiden in der EU etwa 30 Millionen an einer solchen Krankheit. Viele der seltenen Erkrankungen haben einen genetischen Ursprung, so auch die Friedreich-Ataxie.
Der Blog: Unter www.derbestmoeglichetag.de berichtet Christine Fiedler über das Leben mit der Friedreich-Ataxie. Sie hat auch die Plattform Hopebase gestartet, um Betroffene besser zu vernetzen und Spenden für Medikamentenstudien zu sammeln.
Unterstützung: Der Verein Viez e. V. hilft Familien mit einer neurodegenerativen Erkrankung wie der Friedreich-Ataxie. Über Spenden werden Behandlungen oder Geräte finanziert, aber auch Forschungsprojekte unterstützt: www.viez-ev.de
„Es gibt in Europa einige kleinere Studien, um herauszufinden, ob Wirkstoffe zugelassen werden können“, sagt Bart-Jan Schuman. Er ist der Vorsitzende des Fördervereins zur Erforschung der Krankheit. Darüber haben ihn die Fiedlers kennengelernt. Es passiere aber immer noch viel zu wenig, sagt Schuman: „Wir haben es eilig. Wir müssen Zeit gewinnen für unsere Kinder.“ Auch Schumans Tochter hat die Friedreich-Ataxie.
Die größte Hoffnung setzen betroffene Familien in Gentherapien. Wenn man das betroffene Gen verändern könnte, wäre eine normalere Frataxin-Produktion wieder möglich, sagt Schuman. Die Forschung daran findet vor allem in den USA statt, aber auch in Frankreich. Dort ist es gelungen, Mäuse mit Friedreich-Ataxie zu heilen. Ob die Methode jedoch auch beim Menschen angewendet werden kann, ist völlig offen. Und selbst wenn, würde es noch viele Jahre dauern, bis ein solches Verfahren zugelassen wäre.
Kampf um Normalität
Christine will nicht einfach nur abwarten, sie will etwas tun. Mit Freunden organisiert sie im Juni 2017 einen Spendenlauf. Sie gehen zu Fuß von Hamburg Richtung Ostsee. Für jeden zurückgelegten Kilometer bekommen sie von Sponsoren Geld. Sie spenden es für Forschungsprojekte.
Heute, bald zwei Jahre nach der Diagnose, machen Nils die Symptome zusehends zu schaffen. Wenn er über die Straße zur Bushaltestelle läuft, beobachtet Christine ihn aus dem Küchenfenster und überlegt, ob er schlechter geht als am Tag zuvor. Einmal versucht Nils, bei Grün schnell noch über die Straße zu rennen. Er stürzt und rappelt sich hoch. Das Knie ist verschrammt, in der Hose ein Loch.
Es ist schwer für Nils, nicht mehr wie früher der Starke zu sein, dem die Dinge leicht von der Hand gehen. In der Schule aus der Reihe zu fallen, weil er nicht mehr kann. Christine hat mit der Direktorin geredet, damit er andere, passendere Aufgaben bekommt.
„Lassen Sie ihn auch mal zu Hause“, rät Nils’ Therapeutin den Eltern. Das fällt Christine nicht leicht. Schule, das ist Alltag, Normalität. Dass genau diese Normalität für Nils langsam zu anstrengend wird, dass müssen auch die Eltern erst akzeptieren.
In der Küche bereiten Uwe und Christine das Abendessen vor. Nils geht ins Wohnzimmer und stellt sich auf ein vibrierendes schwarzes Brett. Der schmale Junge wird von den Füßen aufwärts durchgerüttelt. Das soll das Gleichgewicht verbessern und die Muskelfunktionen steigern. Jeden Tag macht Nils seine Übungen. „Ich habe aber nicht das Gefühl, dass es besser wird, es wird nur schlechter. Dann hab ich auch keine Lust dazu“, sagt er.
Später, beim Abendessen. Ole, der kleine Bruder, ist eher unbekümmert. Lego, Donald Duck, die alten Römer, das sind seine Themen, dem Gespräch der Erwachsenen am Tisch folgt er nur mit einem Ohr. Er isst gerade den dritten mit Käse und Schinken gefüllten Tortillafladen, da hebt er plötzlich den Kopf. Er hat etwas aufgeschnappt. „Was, ich habe eine verkürzte Lebenserwartung?“
Ole sieht seine Mutter fragend an. „Heißt das, dass ich kürzer Rente kriege?“ Seine Mutter antwortet ruhig: „Vielleicht bekommst du auch schon früher Rente.“ „Aber fünf Jahre lebe ich schon noch, oder?“ „Na klar, auch noch viel länger.“
Ole hört zu, kaut weiter. Dann lächelt er. „Sagt das eine Schwein zum anderen: Ist doch wurscht, was aus uns wird.“ Er schiebt den Stuhl zurück und läuft mit schlenkernden Armen in sein Zimmer.
Bohrende Fragen
Anders als Ole denkt Nils oft über die Krankheit nach. Christine beschreibt das im Blog: „Er stellt uns im Moment viele der Fragen, die wir uns selbst nicht zu fragen trauen und die wir nicht beantworten können. Wie alt werde ich? Was passiert mit mir? Wie schnell wird die Krankheit voranschreiten?“ Nils würde gern Lehrer werden. Jetzt fragt er: „Warum sollte ein Arbeitgeber mich einstellen, wenn er einen gesunden, schnelleren Menschen einstellen kann? Warum soll ich die Schule beenden, wenn ich vielleicht nie werde arbeiten können?“ Christine schreibt: „An manchen Tagen bleiben mir dann meine eigenen Motivationstiraden im Hals stecken, und wir nehmen uns in den Arm und heulen.“
Insgesamt sind die Wut und Trauer der Eltern aber weniger geworden. Heute weine sie vielleicht noch zehn Minuten am Tag, sagt Christine. Die Krankheit hat für sie inzwischen eine gewisse Normalität. Christine überlegt, wie sie das formulieren soll. Konzentriert und ruhig sagt sie: „Wenn man davon ausgeht, dass das Leben schwer ist, dann ist diese Tatsache nicht bedeutsam. Dann ist es einfach so.“
Ob man einen Tag als gut oder schlecht erlebt, hängt von den Erwartungen ab. Nur so lassen sich auch schreckliche Umstände aushalten. Nur so kann man sich trotz aller Widrigkeiten freuen.
Die Fiedlers können heute sogar über sich lachen. Einmal, schreibt Christine im Blog, versucht sie, Oles Reißverschluss an der Jacke zuzumachen und schafft es nicht gleich. Ole schwankt, auch er kann seine Bewegungen nicht mehr ganz steuern. Sie sind spät dran. Christine schimpft: „Kannst du mal bitte aufhören, hier so rumzuwackeln und einen Moment ruhig stehen bleiben!“ Kurz wird es still. Dann lachen alle los.
Christine und Uwe sagen, sie haben ihre Unterschiede im Umgang mit der Krankheit schätzen gelernt. Uwe, der Geduldige, Christine, die Aktive. Alle Worte über die Friedreich-Ataxie sind zwischen ihnen gesagt. Als Christine vor Kurzem eine halbe Stunde weinen musste, hat Uwe sie einfach nur gehalten, schweigend. „Genetisch mögen wir überhaupt nicht zusammenpassen, aber unsere Loyalität ist heute größer als vorher“, sagt Christine.
Erinnerungen sammeln
Am späten Montagabend in der Küche. Die Tortillareste sind weggeräumt, die Kinder im Bett. Die Eltern haben sich einen Weißwein geöffnet. Uwe schaut seine Frau an. „Du hast wirklich Hoffnung, dass sie irgendwann ein Medikament finden, oder?“ Christine nickt. Vor der Zeit im Rollstuhl habe sie nicht so Angst, sagt sie. „Aber wenn man das ganz zu Ende denkt, das ist ein Szenario … Das darf nicht sein. Es muss etwas gefunden werden.“ Sie wischt sich ein paar Tränen weg. Uwe sagt: „Und ich habe Angst, auf so etwas zu hoffen. Wenn sie dann nichts finden, könnte ich es nicht ertragen.“
Wäre es leichter, sie alle würden bei einem Unfall das Leben verlieren, als die Einschränkungen der Kinder nach und nach erleben zu müssen? Solche Fragen haben sie sich zu Beginn gestellt. „Nein“, sagt Uwe heute. „Was wir den Kindern geben können an Freude, was sie uns geben können, das wollen wir nicht missen.“
Christine beschreibt das in ihrem Blog so: „Unser Glück wohnt immer noch bei uns. Es ist kein kleines Glück und kein halbes Glück, sondern dasselbe Glück, das immer da war.“
Früher, als Kind, hatte Christine einen Wunsch: Sie wollte sehr, sehr alt werden. Sie sah sich an einem Fenster sitzen und in einen Hinterhof schauen. „Heute möchte ich nicht mehr alt sein“, sagt sie. „Ich möchte nicht mehr alles schon hinter mir haben. Ich möchte jeden Tag Erinnerungen sammeln.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett