Vom 11. September zu Corona: Mutter der „alternativen Fakten“
Die Behauptung, 9/11 sei ein „Inside Job“, war die erste große Internet-Verschwörungsthese. „Alternative Fakten“ wurden massentauglich.
Es war das bislang erfolgreichste Geschäftsjahr des Internets. Zwischen 350 und 500 Millionen Menschen nutzten 2001 das wenige Jahre zuvor als Knotenverbindung zwischen US-Universitäten entwickelte Datennetz. Heute sind es über vier Milliarden Nutzer*innen weltweit.
Die damals noch neue Kommunikationstechnologie machte möglich, dass schon unmittelbar nach den Anschlägen Ideen über den Terrorakt als „Inside Job“ der US-Regierung (oder des Mossad, der Geheimdienste oder aller zusammen) Verbreitung fanden. Die Vorstellung, dass alles in Wirklichkeit ganz anders ist, als es „die offizielle Version“ oder „die Mainstreammedien“ berichten, wurde mit 9/11 massentauglich.
Dieser Text ist Teil des taz-Dossiers zu den Terroranschlägen vom 11. September vor 20 Jahren. Der Schwerpunkt erscheint in der Ausgabe vom 31. August. Unsere Autor*innen beschäftigen sich darin mit den Folgen des Anschlags. Wie haben sie ihn erlebt? Wie hängt 9/11 mit der Krise in Afghanistan zusammen? Welche Verschörungsmythen bestehen nach wie vor?
Tatsächlich gibt es direkte Linien von der 9/11- „Truth“-Bewegung zu den Querdenker*innen und Coronaleugner*innen von heute. Einer der Antreiber solcher Erzählungen war vom ersten Tag an der notorische US-Verschwörungsthesenverbreiter Alex Jones. Dessen Hauptmedium war damals das Radio – seine Show wurde von mehreren hundert Sendestationen verbreitet, seine Webseite infowars.com war schon seit 1999 online und ist es bis heute.
Jones, einer der lautesten Verteidiger Donald Trumps, brach erst jetzt mit dem ehemaligen Präsidenten, als der bei einer Veranstaltung seine Anhänger*innen aufforderte, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Jones’ Website ist derzeit voll mit Fakenews über Zehntausende Impftote, die von den Mainstreammedien verschwiegen würden.
Auch Richard Gage ist bei beiden Bewegungen mit dabei. Der Architekt aus Kalifornien gründete 2006 die Gruppe „Architekten und Ingenieure für die Wahrheit über 9/11“, die im Wesentlichen argumentierte, der Einsturz der Doppeltürme des World Trade Centers und vor allem des nicht direkt getroffenen Nebengebäudes WTC 7 könne unmöglich die Folge der Flugzeugeinschläge sein – vielmehr habe eine kontrollierte Sprengung stattgefunden.
In der „Truther“-Szene gilt diese Idee inzwischen als unumstößliche Wahrheit, und auch für den Regisseur Spike Lee klang sie plausibel genug, dass er Richard Gage in einem für HBO produzierten Vierteiler zum 20. Jahrestag von 9/11 reichlich Platz einräumte. Erst nach Kritik in US-Medien erklärte Lee vor wenigen Tagen, die Folge zu überarbeiten.
Vom Statik- zum Pandemieexperten
Gage ist seit vergangenem Jahr offenbar auch Pandemie-Experte und erklärte in mehreren Podcasts, Covid-19 sei die Erfindung einer „zunehmend restriktiven und tyrannischen Regierung“, die die Bevölkerung „mit Impfstoffen vergiften will, die uns töten werden“. Bill Gates sei ein Eugeniker, der die Weltbevölkerung reduzieren wolle.
Auch in Deutschland sind die Überschneidungen offensichtlich. So saßen 2003 im Audimax der Humboldt-Uni in Berlin unter dem Veranstaltungstitel „Der inszenierte Terrorismus“ etwa Gerhard Wisnewski, Andreas von Bülow und Mathias Bröckers auf der Bühne. Wisnewski erklärte damals, es seien gar keine entführten Flugzeuge ins World Trade Center geflogen, sondern ferngesteuerte Drohnen.
Heute ist er Autor beim rechten, Verschwörungsideologien verbreitenden Kopp-Verlag und bei Jürgen Elsässers rechtsextremen Compact-Magazin. Er wettert gegen Covid-19-Impfungen und die „Coronadiktatur“.
Ex-Bundesminister Andreas von Bülow, der auch damals zu lange aus jeder Regierungsfunktion ausgeschieden war, als dass er noch Insider-Informationen haben könnte, sah in 9/11 ein abgekartetes Spiel von Geheimdiensten. Anfang diesen Jahres trat auch er beim Kongress des Kopp-Verlages auf. Titel seines Vortrags: „Die Impfagenda des Bill Gates und sein Einfluss auf die WHO und die Pharmaindustrie“.
Dieselben Leute, dieselbe Denke
Ex-tazler Mathias Bröckers, der zunächst mit durchaus journalistischen Fragestellungen an die Anschläge herangegangen war und auf tatsächliche Ungereimtheiten und verfrühte Schlüsse hingewiesen hatte, verzettelte sich dann in den Wirren der „Truther“-Szene. Er gehört zu den Gründern und zum Freundeskreis des Rubikon-Verlags, auf dessen Homepage sich sowohl alles Mögliche zu 9/11 findet als auch Texte über und gegen die „Coronadiktatur“.
Bröckers wurde fester Gast von Ken Jebsens „KenFM“ – und schrieb ein Buch über den selbsterklärten großen Aufklärer Jebsen, der damals noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Verschwörungsthesen über 9/11 verbreitet hatte und heute ein Medienstar der Coronaleugner-Bewegung ist.
Dieselbe Denke, dieselben Leute: Wie keine andere Verschwörungserzählung zuvor hat die Behauptung der „Wahrheit über 9/11“ dazu beigetragen, jene Parallelfaktenwelt hervorzubringen, die heute öffentliche Debatten so schwierig macht – und ihren gewaltvollen Ausdruck in „Lügenpresse!“-Geschrei und Übergriffen auf Journalist*innen findet.
Leser*innenkommentare
tomás zerolo
@JIM HAWKINS
Klar, die Grenzen sind unterschiedlich für jede*n.
Letztlich sind das Menschendinge und somit immer mehrdeutig und kompliziert.
Was heisst hier letzlich "racist"?
Ich, als alter weisser Mann habe sicher einen kleinen Rassisten irgendwo unter meinem Schrank versteckt.
Es bringt überhaupt rein gar nichts, zu behaupten er existiere nicht: dann kommt er von hinten, wenn ich schlafe, und tut furchtbare Dinge.
Ich muss mich dem immer wieder stellen. Ärgerlich.
Jim Hawkins
@tomás zerolo Es ist das eine, rassistische oder andere Ressentiments bei sich selbst zu entdecken oder zu vermuten.
Daran kann man arbeiten.
Wenn es wie hier um Verschwörungserzählungen geht, kann man die auch bei sich entdecken oder vermuten.
Auch daran kann man arbeiten.
Ganz anders verhält es sich, wenn man affirmative Bücher über dieses Thema schreibt und bei notorischen Vertretern dieses Drecks in deren Medien auftritt.
Dann ist man Akteur und macht das alles nur noch schlimmer.
Man ist Täter.
tomás zerolo
@JIM HAWKINS:
Vielleicht habe ich Sie verstanden miss. Irgendwie las ich Sarkasmus in Ihrer Bemerkung.
Einen ehemaligen Weggefährten zum Geburtstag zu gratulieren heisst ja nicht, mit seinen Positionen zu sympathisieren.
Jim Hawkins
@tomás zerolo Lassen Sie mich musikalisch antworten:
www.youtube.com/watch?v=gqH_0LPVoho
"If you have a racist friend
Now is the time, now is the time for your friendship to end
Be it your sister
Be it your brother
Be it your cousin or your, uncle or your lover
If you have a racist friend
Now is the time, now is the time for your friendship to end"
Weil, glaubt einer an derartige Narrative, dann ist das nicht wesentlich anders, als zu glauben, die Juden wären an allem schuld, schwarze Menschen minderwertig oder sonst irgendeinen Dreck.
Man gratuliert nicht, man redet nicht, man trennt sich und geht seines Weges.
So mache ich das jedenfalls
Kappert Joachim
Sind ja alles Leute, denen ich nicht nachts auf der Straße begegnen möchte.
tomás zerolo
@JIM HAWKINS:
Vielleicht ist es auch sinnvoller, sich mit jemandem inhaltlich auseinanderzusetzen, statt ihm das Menschsein abzusprechen.
Jim Hawkins
@tomás zerolo Wem habe ich denn wo und wie das Mensch sein abgesprochen?
Domi Martin
Ich denke den leuten ist letztendlich egal wie oder warum etwas passiert ist, sie suchen nur nach dedektivmanier das was am meisten provoziert und am dramatischtenst ist.
Lars B.
VTler wird es wohl immer geben. Kritisches Betrachten einer Sache ist gut, abzuwägen, was wahrscheinlich und sinnvoll ist und einen Zweck verfolgt, der auch Vorteile für jemnden oder eine Gruppe bringt, daran scheitern VTler zumeist. Ihre Erklärungen sind so reich an Phantasie und bar jeder Logik und Vorteil für diejenigen, die sie beschuldigen, dass man nur noch die Händer überm Kopf zusammenschlagen kann. Ich höre mir so etwas schon lange nicht mehr an, kostet nur Nerven.
Trigger
Ein Lernprozess. Ja, es gibt Menschen, die den größten Humbug für wahr halten. Bei denen das Ego einfach größer ist als Vernunft und Verstand. Es gibt viele davon. Und anstatt dass alle Welt nur drüber lacht, muss man die heutzutage auch noch ernst nehmen, denn jeder hat ja das Recht auf eine eigene Meinung. Irgendwie seltsam.
Jim Hawkins
Und dem Herrn Bröckers gratulierte die taz zu seinem 65. Geburtstag recht herzlich:
taz.de/Zu-Mathias-...eburtstag/!168980/
Ein geschätzter Kollege eben.