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Volkstrauertag und Kriegsgräber„Graadselääd – jetzt erst recht!“

Jedes Jahr um diese Zeit zieht der Bund für Kriegsgräberfürsorge durch die Straßen und sammelt. Ein Dorf in der Pfalz schert aus.

Exbürgermeister Walter Hoffmann hat die Resolution seines Dorfs initiiert. Foto: Thomas Gerlach

Niederhorbach taz | Das letzte Laub glänzt an den Rebstöcken, der Himmel ist blau, hinten liegt das Dorf. „Wie Frühling“, sagt Walter Hoffmann, blinzelt in den Himmel und weist auf seinen Wein. „Hoffmann’s Tropfen“ steht auf dem Etikett. Der ehemalige Bürgermeister führt durch die Weinberge, seine und die der anderen aus Niederhorbach im Landkreis Südliche Weinstraße. Im Osten glitzert der Rhein, im Westen liegt der Pfälzer Wald. Zwischen sanfte Hügel schmiegt sich, wie in einem goldenen Bett, Niederhorbach, 800 Jahre alt, 500 Einwohner, kleine Höfe, viel Fachwerk. Ein lieblicher Ort. Angela Merkel wird trotzdem nicht kommen mit der Sammelbüchse in der Hand. Auch nicht Ursula von der Leyen oder Frank Walter Steinmeier. Und Joachim Gauck hat im vorigen Jahr bereits eine Absage geschickt.

„Ich habe mir über Jahre die Hacken abgelaufen“, erzählt Hoffmann und stampft über die Hauptstraße. Man kann sich gut vorstellen, wie der 67-Jährige, so wie jetzt, leicht nach vorn gebeugt, von Hof zu Hof gezogen ist, um für die Kriegsgräberfürsorge zu sammeln. Hoffmann stammt von hier. Er hat sich hochgearbeitet, vom Kleinbauernjungen zum Dozenten bei Siemens in Karlsruhe. Im Jahr 2010 wurde der Ruheständler zum Bürgermeister gewählt. Du hast doch jetzt Zeit, haben die Leute gesagt. Wenn Hoffmann in der Tür stand, haben sie das Portemonnaie aufgemacht.

Damit ist Schluss. Vor einem Jahr hat dies der Gemeinderat einstimmig beschlossen. Und er hat eine Resolution verabschiedet. Sollen die Leute wissen, warum die Büchse nicht mehr rasselt. Nein, es geht nicht gegen den Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge, stellen die Volksvertreter klar. Die Arbeit gegen das Vergessen sei richtig und wichtig. Deswegen rufen sie die Einwohner auf, das Geld zu überweisen. Aber wenn „etliche Vertreter unserer großen Politik“ meinen, Deutschland müsse „mit Mann und Material an internationalen Brandherden mitzündeln“, dann sollen sie in Zukunft selbst die Häuser abklappern, stellten die Gemeinderäte klar.

Auslöser: die Sicherheitskonferenz München

Mehr noch: „Wenn im Militärhaushalt Geld ist, um in fremde Kriege zu ziehen, dann ist erst recht Geld da, vorhandene und zwangsläufig hinzukommende Gräber gefallener Soldaten zu pflegen.“ Und sie schließen: „Krieg geht von deutschem Boden aus, wenn deutsche Soldaten in die Kriege der Welt getrieben werden, und wenn die deutsche Rüstungsindustrie erfolgreich ihrem Bombengeschäft nachgeht.“ Die Resolution haben sie dann an Bundespräsident Gauck geschickt, der auch Schirmherr des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist. Ganz schön viel Eigensinn für so ein kleines Dorf? Walter Hoffmann lächelt still.

Am Abend füllt Hoffmann die Kelche mit Dornfelder aus Niederhorbach und lehnt sich in seinem Korbstuhl zurück. „Was mich aufgebracht hat, ist die Rede von Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz voriges Jahr.“ Hoffmann besitzt eine freundliche, gewinnende Art – ein Pfälzer, kein Hitzkopf. Er hat ein paar Unterlagen ausgebreitet, liest laut: „Wir sind auf dem Weg zu einer Form der Verantwortung, die wir noch nicht eingeübt haben.“ Er schüttelt den Kopf. Dann wandert sein Finger weiter: „Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein.“ Plötzlich scheint die sonore Stimme von Joachim Gauck nachzuhallen. Walter Hoffmann ist aufgestanden. Glaubt man‘snoch? Ein ehemaliger Pastor redet vom Krieg.

Es ist nicht so, dass den Leuten hier die Kriegstoten egal sind, so nah am Elsass, wo selbst Bismarcks Krieg gegen Frankreich noch präsent ist

Walter Hoffmann

„Als der Struck sagte, die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt, also…„Hoffmann sucht kurz nach einer druckreifen Formulierung, lässt es dann bleiben. „Also das ist Verarschung.“ Nach dem 11. September 2001 erweiterte SPD-Verteidigungsminister Peter Struck den Aktionsradius der Bundeswehr kurzerhand bis nach Afghanistan. Deutschland wird am Hindukusch verteidigt? Mit Milliarden von Euro? Mit Menschen und Material? Und dann kehren Verwundete, Traumatisierte, Tote heim? Und die Spitze des Staates nennt das „Verantwortung einüben“? Während der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge alljährlich Sammellisten, Argumentationshilfen und vorformulierte Reden zum Volkstrauertag durchs Land schickt? Das passt doch nicht zusammen.

„Vorformulierte Reden habe ich nie benutzt“, versichert Hoffmann, wenn er auf den Friedhof beim Mahnmal für die Kriegstoten zur Feierstunde einlud. Es ist nicht so, dass den Leuten die Kriegstoten egal sind, hier, so nah am Elsass, wo selbst „70/71“, Bismarcks Krieg gegen Frankreich, noch präsent ist. Und wenn sie, wie manche behaupten, nur zu faul wären, mit der Büchse loszuziehen, dann hätten sie das Kuvert in den Papierkorb stecken können. „Nein, so billig machen wir es nicht.“

Seelenverwandter Beck

In der Küche dampfen Fleeschknepp mit Meerrettichsoße – eine Pfälzer Spezialität. Frau Hoffmann bittet zu Tisch. Es sind gekochte Fleischklöße, ähnlich den Königsberger Klopsen. „Deutschland am Hindukusch verteidigen“, brummt Hoffmann noch mal. „Übrigens, wer war der Erste, der gesagt hat, man müsse auch mit den Taliban reden?“ Kurze Pause. „Kurt Beck.“ Über den SPD-Parteivorsitzenden hergefallen seien sie 2007, als er vorschlug, gemäßigte Taliban zu einer Friedenskonferenz einzuladen. Da steckte die Bundeswehr schon fünf Jahre am Hindukusch fest. Als Provinzpolitiker habe man den Pfälzer abqualifiziert, einige Jahre später war das dann Regierungspolitik.

Überhaupt scheint Beck so etwas wie ein Seelenverwandter für den parteilosen Hoffmann zu sein. Beck und Hoffmann – beide Jahrgang 1948/49, beide wollten 1966 in Bad Bergzabern die Mittlere Reife nachholen. Als Hoffmann sechs Wochen in der Weinlese war, verpasste er den Anschluss. Kurz, Beck hat’s geschafft. In Steinfeld, gleich nebenan, war Beck Bürgermeister, bevor er in die Landes- und Bundespolitik aufstieg.

Spät am Abend, Hoffmann ist noch einmal ins Auto gestiegen und lenkt durch die schmale Hauptstraße. Im neuen Gemeindehaus brennt noch Licht. „Der Gemeinderat“, sagt Hoffmann. Er selbst ist raus, vor einem Monat haben sie ihn verabschiedet. Nach zwei Herzinfarkten war Schluss. Drinnen stimmen sie jetzt darüber ab, ob sie bei ihrer Resolution bleiben. Hoffmann stoppt kurz und blickt auf die Fenster. Viel Wehmut ist dabei.

Heute sind es Drohnen

Am nächsten Morgen sind die Gemeinderäte wieder bei der Arbeit. Ralf Lorenz, der neue Bürgermeister, ist Versicherungsmakler und hat am Jahresende mächtig zu tun. Winzer Bernd Mühlhäuser hat den Herd angeheizt, um aus Trester Schnaps zu brennen. Der Duft von Holzfeuer legt sich über das Dorf. Wird in diesem Jahr gesammelt? Nein, sagt Rainer Keller. Niederhorbach bleibt bei seinem Entschluss. Acht Ja-Stimmen, eine Enthaltung. Keller, 47 Jahre alt, ist Grafiker und hat ein kleines Büro am Dorfrand. Kurze Locken, grauer kurzer Bart, rundes Gesicht. Im Holzofen glimmt Glut. Für die Winzer gestaltet Keller Etiketten, für den Tourismusverband Prospekte. Keller ist der kreative Kopf.

Er hat auch den Text für die Resolution formuliert. Warum? „Wir als Deutsche haben eine Verpflichtung, uns für den Frieden einzusetzen“, fängt er an und erzählt von seinem Großvater, der wohl in Russland in einem Kartoffelacker sein Ende gefunden hat. „Es hätte auch mich treffen können.“ Im Kalten Krieg waren dann Franzosen und Amerikaner im Pfälzer Wald stationiert. Die Franzosen sind weg, die Amerikaner geblieben und von der Airbase Ramstein steuern sie heute Drohnen, hatte Hoffmann gesagt. „Damals im Kalten Krieg hatte ich noch geglaubt, dass wir die Guten sind“, sagt Keller. „Diesen Glauben habe ich nicht mehr.“

Viel Zustimmung erhalten

Kämpfe werden heutzutage als Einsätze mit „robustem Mandat“ oder gleich als „humanitäre Missionen“ verschleiert. Keller hatte gehofft, dass sich der Volksbund in dieser Angelegenheit auch zu Wort melden würde. Stattdessen hat sich der Vorsitzende der Kriegsgräberfürsorge von Rheinhessen-Pfalz tatsächlich sehr betroffen geäußert – aber nicht wegen der Politik in Berlin, sondern wegen der Renitenz in Niederhorbach. „Die Kriegsgräber sind die großen Prediger des Friedens“, zitierte er Albert Schweitzer.

Überhaupt waren die Reaktionen letztes Jahr eindrucksvoll – Dutzende Mails, Leserbriefe, Kommentare. Fast alle zustimmend. Joachim Gauck ließ ausrichten, dass der Bundespräsident keinen „bestimmenden Einfluss auf den Etat des Bundes“ hat. Deswegen möchte er sich auch bei der Forderung enthalten, Mittel aus dem Militärhaushalt zugunsten der Volksbundarbeit umzuschichten. Und eine Mundartdichterin schickte aus Kaiserslautern sogar ein Gedicht auf Pfälzisch.

Auch Rainer Keller pflegt das Pfälzische. Alljährlich zum Weinfest gibt er ein Heftchen mit Niederhorbacher Ausdrücken heraus. „Graadselääd!“ ist so ein Wort. Es ist die Niederhorbacher Variante des „Jetzt erst recht!“, erklärt Keller. Es bedeute „ein hartnäckiges Festhalten am eigenen Vorhaben und dessen willensstarke Entschlossenheit zur Umsetzung selbst widrigen Umständen zum Trotz“. Auf die Resolution übertragen heißt das wohl: Niederhorbach wird bei seiner Entscheidung bleiben. „Graadselääd!“ – Joachim Gauck könnt sich diesen Ausdruck langsam merken.

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2 Kommentare

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  • Danke, taz, danke Thomas Gerlach. Und bitte, mehr davon. Graadselääd.

  • Danke für den tollen Text — und die tolle Aktion!