Volksbegehren „Berlin autofrei“: Verhältnismäßig umstritten
Die Innenverwaltung hält den Gesetzentwurf von „Berlin autofrei“ für grundgesetzwidrig. Wahrscheinlich geht es nun vors Verfassungsgericht.
„Die angestrebten Regelungen, den privaten Autoverkehr im gesamten Innenstadtbereich (sog. Hundekopf) grundsätzlich gesetzlich zu verbieten und nur noch in Ausnahmefällen zuzulassen, sind im Ergebnis unverhältnismäßig und mit der allgemeinen Handlungsfreiheit unvereinbar“, so die stellvertretende Sprecherin der Innenverwaltung, Sylvia Schwab. Dabei beruft sich das Haus von Senatorin Spranger (SPD) auf Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz, wo es heißt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Beantragt wurde das Volksbegehren von der Initiative Volksentscheid Berlin autofrei: Anfang August 2021 reichte sie mehr als 50.000 Unterschriften dafür bei der Innenverwaltung ein. Gemäß dem Berliner Abstimmungsgesetz hätte sich der Senat eigentlich schon im Januar positionieren müssen, es kam aber zu einem Aufschub bis März, weil die Initiative inhaltliche Änderungen nachreichte. Angestrebt wird von ihr die Verbannung des privaten Kfz-Verkehrs aus dem gesamten S-Bahn-Ring – mit einer Vielzahl von Ausnahmen. Ein Berlin mit weniger Autoverkehr wäre „lebenswerter und klimafreundlicher“, so die Überzeugung von „Berlin autofrei“.
In einer ersten Reaktion auf die Bewertung durch die Senatsverwaltung teilten die InitiatorInnen mit, die Unverhältnismäßigkeit liege nicht im Gesetzentwurf, sondern „in der Vorherrschaft des Autos“. Senatorin Iris Spranger und ihrer Verwaltung fehlten offenbar „der politische Wille und Mut, diese Probleme ernsthaft zu lösen. Aber sollte der Senat uns vor das Landesverfassungsgericht schicken, scheuen wir diesen Weg nicht“, so Sprecherin Nina Noblé.
Innen Eher „autoarm“ würde Berlins Innenstadt auf Grundlage des Gesetzentwurfs von „Berlin autofrei“. Von der angestrebten Anpassung des Berliner Straßengesetzes blieben Wirtschafts- und Einsatzverkehr unberührt, Menschen mit Einschränkungen könnten ihr Auto weiter nutzen, und alle anderen HalterInnen dürften 12-mal im Jahr private Fahrten unternehmen.
Außen Im Gegensatz zur grünen Landesspitze, die diesen Weg für richtig hält, hat ihn die grüne Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch im taz-Interview als „politisch und praktisch falsch“ bezeichnet. Ihre Befürchtung: Wird der S-Bahn-Ring autofrei, bereitet der Berufsverkehr am Rand Probleme.
Gute Chancen erwartet
Die Initiative verwies darauf, dass ihr Entwurf durch „viele erfahrene Jurist:innen erarbeitet, geprüft und verbessert“ worden sei. Deshalb schätze man die Chancen vor dem Verfassungsgericht als „sehr gut“ ein. Auch habe 2021 der Verwaltungsrechtler Remo Klinger in einem Gutachten für die Senatsverwaltung festgestellt, dass der Gesetzentwurf der Initiative „formell mit dem Grundgesetz vereinbar“ und in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit eine rechtskonforme Auslegung möglich sei.
An die VerfassungsrichterInnen überwiesen hatte der Senat schon den Gesetzentwurf des Volksbegehrens „Berlin werbefrei“. Begründung: Er vermische nicht zusammengehörende Dinge und sei wegen dieses Verstoßes gegen das sogenannte Koppelungsverbot unzulässig. Der Gerichtshof entschied allerdings Ende 2019, die Innenverwaltung müsse der Initiative eine rechtskonforme Nachbesserung ermöglichen. Das tat diese – aktuell liegen ihre Vorschläge wieder zur Prüfung im Hause Spranger.
Berlins grüne Doppelspitze – Susanne Mertens und Philmon Ghirmai – erklärte am Dienstag, ihre Partei teile das „Ziel des Volksbegehrens, autofreie und autoarme Bereiche in Berlin zu schaffen“. Die große Unterstützung habe gezeigt, „wie wichtig und richtig dieser Weg ist“. Die Prüfung durch das Verfassungsgericht stelle nun „eine große Chance dar“, finden Mertens und Ghirmai, weil geprüft werden könne, „ob dieser Weg verfassungskonform und verhältnismäßig ist. Dann haben wir Klarheit darüber, ob diese gesetzliche Regelung tatsächlich ein Baustein zu einer Verkehrswende in Berlin werden kann.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern